Zionismus
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Zionismen sind politische Bewegungen und Philosophien, die alle im Kern an einen Anspruch auf einen ethnisch-jüdischen Nationalstaat im Land Palästina glauben, das derzeit größtenteils vom modernen, 1948 gegründeten Staat Israel besetzt ist. Der Zionismus entwickelte sich im Laufe des späten 19. bis 21. Jahrhunderts aus einer Reaktion auf den europäischen Antisemitismus und wurde zu einer hauptsächlich säkularen politischen Philosophie. Die Bindung an diese Philosophie prägt einen Großteil der politischen, juristischen und militärischen Politik des Staates Israel als einen expansionistischen, ethnisch-religiösen Staat. Vor allem aber bildet der Zionismus den Rahmen für Israels ‚Existenzrecht‘, das vor allem von westlichen Regierungen politisch, finanziell und militärisch unterstützt wird.
Der Zionismus ist eine politische Ideologie, die sich sowohl von jüdischen Ethnien als auch von der Religion des Judentums unterscheidet. Eine der politischen Strategien des Zionismus besteht jedoch darin, sich als primäres Element der jüdischen Identität zu positionieren, obwohl es unter den jüdischen Völkern unterschiedliche Meinungen zum Zionismus gibt. Jüdische Menschen können sich als Zionist*innen (oder Antizionist*innen) identifizieren oder auch nicht, während viele führende Politiker*innen der westlichen Welt sich als Zionist*innen bezeichnen, obwohl sie kein jüdisches Erbe oder keine jüdisch-religiöse Identität haben. Auf diese Weise sollte der Antizionismus scharf und klar vom Antisemitismus unterschieden werden: Antizionismus bezieht sich auf die Kritik am Zionismus als einer politischen Philosophie, auf der die Politik des modernen Staates Israel basiert (sowie auf die Ablehnung der Art und Weise, wie der Staat Israel gegründet wurde); Antisemitismus bezieht sich auf den Hass auf jüdische Menschen im Sinne einer ethnischen und religiösen Gruppe.
Unterschiedliche Strömungen zionistischen Denkens reichen vom religiösen über militant-rechten bis hin zu links-sozialistischem Zionismus. Das macht es schwierig, den Zionismus als eine Einheit und in der Einzahl zu diskutieren. Gemeinsam ist zionistischen Philosophien jedoch der Glaube an das ‚natürliche Recht‘ auf die Existenz einer jüdischen Heimstätte im Land Palästina. Historisch betrachtet ermöglichte dieser Glaube die Kolonisierung und Enteignung von Land in Palästina für die Gründung des modernen Staates Israel. Dieser Prozess vollzog sich in aufeinanderfolgenden Einwanderungswellen und eingebettet in zahlreiche gewaltvolle politische, soziale und religiöse Kontexte.
Der frühe Zionismus als ‚Lösung‘ für den europäischen Antisemitismus
Während viele Darstellungen des zionistischen Denkens den Ursprung eines jüdischen Heimatlandes in der Bibel verorten, konzentrieren sich die meisten Diskussionen über den Zionismus auf den modernen Zionismus, von dem gemeinhin angenommen wird, dass er seinen Ursprung in Europa Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts hat. Unter dem Gewicht Jahrhunderte währender antisemitischer Gewalt in ganz Europa, suchten jüdische Menschen aus dem gesamten politischen und religiösen Spektrum nach Wegen, um sich aus diskriminierenden und gewaltvollen Lebensumständen zu befreien. Dabei stand die Anerkennung der „jüdischen Frage“ durch die Regierungen in ganz Europa auf dem Spiel: Würden sich Jüdinnen und Juden – im Sinne einer eigenständigen ethnischen Gruppe – jemals an die europäische Kultur anpassen können? Oder stellten sie eine völlig eigenständige Gemeinschaft dar?1 In diesem Kontext entwickelte sich der Zionismus zu einer emanzipatorischen Philosophie, die durch eine Umsiedlung nach Palästina herbeigeführt werden könnte, das vielen als ‚Tabula rasa‘ galt. Obwohl der Zionismus sicherlich nicht von allen europäischen Jüdinnen und Juden angenommen wurde,2 begannen kleinere Gruppen von jüdischen Siedler*innen, Land in Palästina zu kaufen und gewaltsam zu enteignen. Ermöglicht wurde das durch Investitionen wohlhabender europäischer Jüdinnen und Juden. Es ist wichtig zu erwähnen, dass diese – und nachfolgende – Auswanderungen aus Europa auch von europäischen Staatsoberhäuptern gefördert wurden, da dies weniger Verantwortung der europäischen Regierungen für die schwierigen Fragen der jüdischen Integration bedeutete.
Angetrieben von der zionistischen Philosophie setzte sich die jüdische Auswanderung aus Europa nach Palästina im Laufe des folgenden Jahrhunderts in größeren Wellen fort. Zu den am weitesten verbreiteten zionistischen Bewegungen gehörten solche, die sich selbst als „agrarisch“, „sozialistisch“ oder als „Arbeiterbewegung“ bezeichneten. Sie gingen aus linksgerichteten politischen und sozialen Bewegungen in Ost- und Mitteleuropa hervor. Diese zionistischen Philosophien und Praktiken bildeten die Grundlage für die Kibbuz-Bewegung, die mit genossenschaftlich organisierter Industrie und Landwirtschaft das Rückgrat des Staatsaufbaus vor 1948 bilden sollte. Realisiert wurden diese Ziele jedoch sowohl durch landwirtschaftliche Kolonisierung als auch durch militärische Interventionen. Im Unterschied zu früheren vereinzelten Einwanderungswellen europäischer Jüdinnen und Juden wurden diese Siedlungen nun vorsätzlich geplant und organisiert.
Zionismus, Kolonialismus und Rassismus
Der Prozess, durch den der Zionismus Palästina als „leeres Land“ historisch verortete, war kein Zufall. Selbst in seinen linken oder sozialistische Strömungen war der Zionismus stark von der allgemeinen nationalistischen Verfestigung der europäischen Nationalstaaten und dem anhaltenden europäischen Kolonialismus inspiriert. Frühe Dokumente aus der Geschichte des Zionismus wie Theodore Herzls Mitteilungen an Max Bodenheimer (Erster Vorsitzender des Zionistischen Bundes Deutschlands) verweisen auf die geografischen, expansiven Ziele des Zionismus im Hinblick auf die Möglichkeiten eines jüdischen Staates wie die ideale Ansiedlung „vom Bach Ägyptens bis an den Euphrat“.3 In diesem Sinne war der Zionismus ein Spiegelbild breiterer europäischer politischer Tendenzen. Auf den Versammlungen der Zionistenkongresse zeichnet sich darüber hinaus ab, wie der Zionismus eindeutig als Modell für einen im Entstehen begriffenen Staat mit Praktiken und Politiken verstanden wurde, noch bevor er an einen geografischen Ort gehörte.
Die Annexion Palästinas im Laufe des folgenden Jahrhunderts durch den Zionimus erfolgte nach den Mustern der von den europäischen Mächten entwickelten kolonialen Logik. Wie Edward Said feststellt, „sprach der Zionismus von den frühesten Phasen seiner modernen Entwicklung bis zu seinem Höhepunkt, der Gründung Israels ein europäisches Publikum an, für das die Einteilung der überseeischen Gebiete und der Einheimischen in verschiedene ungleiche Klassen kanonisch und ‚natürlich‘ war“.4 Diese Vorstellung von ethnischer Vorherrschaft war die unmittelbare Grundlage für die fortlaufende und gewaltsame Vertreibung der Palästinenser und Palästinenserinnen und die Zerstörung ihres Heimatlandes, die als Nakba bekannt wurde. Jene Klassifizierungen erstreckten sich auch auf die Juden und Jüdinnen selbst und führten zu Spaltungen und Hierarchien innerhalb der jüdischen Gemeinschaften, die der Zionismus angeblich unterstützten: Schriften und Mitteilungen von zionistischen Denker*innen vor der israelischen Staatsgründung und Politiker*innen des frühneuzeitlichen Staates Israel machen deutlich, dass der Zionismus ein Projekt war, das sich besonders für die Autonomie und Emanzipation der weißen, europäischen Juden eignete.5 Heute ist der Rassismus im modernen Staat Israel durch die De-facto-Behandlung von nicht-weißen, nicht-europäischen Jüdinnen und Juden als Bürger*innen zweiter Klasse trotz ihrer identischen Religionszugehörigkeit allgegenwärtig. Dies untermauert die Behauptung, dass der Zionismus eher eine politische und staatliche Philosophie als eine ethnisch-religiöse Identifizierungsweise ist.
Der Zionismus nach 1945 und Zionismen der westlichen Nationen
Die Gräueltaten des Naziregimes an Jüdinnen und Juden, Roma/Sinti, LGBTQIA*, People of Color und Menschen mit Behinderungen (unter weiteren Minderheiten) führten dazu, dass der Zionismus in der Folgezeit wiederaufgegriffen und neu bewertet wurde. Im Zuge dieses Völkermords wurde der Zionismus vor allem von Regierungen der westlichen Welt als „Voraussetzung“ für die Sicherheit eines jüdischen Heimatlandes sowie als Akt der Sühne und Wiedergutmachung im Zuge des Wiederaufbaus Deutschlands identifiziert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begannen viele Regierungen im Westen, sich eine bestimmte Form des Zionismus zu eigen zu machen, deren Definition auf der Sicherheit des Staates Israel beruhte, insbesondere durch dessen Identifizierung als Stützpfeiler westlicher politischer Ideale im Nahen Osten. Durch diese Assoziation wurde die Bezeichnung „Zionist“ stark in die Geopolitik eingebunden: Nach 1945 wurde der Begriff Zionismus nicht mehr benötigt, um die Notwendigkeit der Existenz des Staates Israel zu rechtfertigen. „Zionist“ wurde stattdessen zu einem Synonym für die Sicherheit des Staates Israels als politischem Akteur.
Infolgedessen wird das Wort „Zionist“ am häufigsten in Bezug auf den Staat Israel selbst verwendet, so dass es nicht nur von israelischen Jüd*innen, sondern auch von führenden Politiker*innen der Welt, evangelikalen christlichen Gruppen und sogar Neonazis benutzt wird.6 Der „liberale Zionismus“ ist eine weitere wichtige Strömung , geprägt im Allgemein von einer Einstellung‚ „in allen Fragen links zu sein, außer in Bezug auf Israel“. In diesem Sinne wird dem Staat Israel ein Ausnahmestatus zuerkannt, der ihn von den Verantwortlichkeiten, Verhaltensnormen und -regeln, die für alle anderen Nationen gelten, ausnimmt. Allein diese Aussage (die häufig eine Selbstbeschreibung liberaler Zionist*innen ist) macht deutlich, dass der Zionismus im Wesentlichen mit linken Werten in Konflikt steht, was seine Einordnung in einen separaten Bereich des politischen Spektrums erforderlich macht. So wird der Begriff „Zionismus“ – ob von Netanjahu oder von liberalen US-amerikanischen Jüd*innen – in erster Linie in Bezug auf die Existenz Israels als ethno-nationalistischem Staat verwendet, nicht hinsichtlich eines besonderen Interesses an der Sicherheit von Jüdinnen und Juden.
Deutschland, Anti-Zionismus und Antisemitismus
Im öffentlichen Diskurs – insbesondere, aber sicherlich nicht nur im Zusammenhang mit Protesten gegen Israels anhaltendem Krieg gegen Gaza und der Kritik daran – wird Antizionismus immer wieder als Synonym für Antisemitismus verwendet. Durch diese bewusste Positionierung wird der Staat Israel in der Praxis mit der globalen jüdischen Religion und der jüdischen Ethnie als Gesamtheit. Kritiker*innen des Zionismus behaupten, dass die von der zionistischen Philosophie unterstützte staatliche Politik – und nicht die Jüd*innen als Gruppe – die historische und aktuelle Gewalt ermöglicht, die den Staat Israel aufrechterhält. Die oft kritisierte BDS-Bewegung (Boykott, Divestment and Sanctions) missbilligt beispielsweise ausdrücklich die gewalttätige Politik des Staates Israel und schlägt die Anerkennung gleicher Rechte für Palästinenser*innen vor, anstatt die Rechte von Jüdinnen und Juden zu schmälern. Denn diese Vermischung ist eine häufig angewandte Methode, um öffentliche Kritik am Staat Israel und seiner Politik abzutun oder ganz zu verhindern.
Die Verquickung von Antizionismus und Antisemitismus ist in Deutschland besonders weit verbreitet, da der Staat Israel als notwendige Lösung für die Verbrechen des Holocaust angesehen wird: Leandros Fischer fasst zusammen, was der Historiker Dirk Moses den „Katechismus der Deutschen“ nennt. Demzufolge „kreist das gegenwärtige deutsche nationale Selbstverständnis um eine Reihe von Grundprinzipien. Dazu gehören die Interpretation des Holocausts als grundsätzlich unvergleichbar mit anderen Völkermorden (z.B. dem Herero-Völkermord durch deutsche Kolonialisten in Namibia zu Beginn des 20. Jahrhunderts), die Existenz einer besonderen Verantwortung der Deutschen gegenüber den Juden, wobei letztere mit dem Staat Israel gleichgesetzt werden, und die Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus“.7
Diese Verwechslung von Kritik am Zionismus/Staat Israel mit Antisemitismus ist auch die Ursache für die außergewöhnliche Art und Weise, in der die Existenz des Staates Israel auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene in deutsches Recht eingeschrieben wurde. Heute ist Kritik am Staat Israel in Deutschland nicht nur in der Politik, sondern auch in Bildung, Kultur und Medien stark erschwert (wenn nicht gar unmöglich). Die diesem Umstand implizite Definition und Verwendung des Begriffs „Zionismus“ spiegeln auch die Art und Weise wider, wie zionistische Philosophien vor dem Zweiten Weltkrieg unter europäischen Staatsoberhäuptern populär gemacht wurden: Mit dieser Verwendung des Begriffs „Zionismus“ wird weiterhin behauptet, dass sich die Jüdinnen und Juden selbst in einer gesellschaftlichen Ausnahmestellung befinden und sich daher von europäischen/deutschen nationalen Identitäten unterscheiden. Es wird auch fälschlicherweise behauptet, dass alle Jüd*innen a.) den Staat Israel unterstützen und b.) dem Staat Israel immer eine höhere Loyalität entgegenbringen als dem Ort, an dem sie leben. Die ‚Notwendigkeit‘ des Zionismus wird – in vielerlei Hinsicht – über das Leben und die Politik von Jüd*innen selbst gestellt.
Aus dem Englischen übersetzt.
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Fußnoten