Antizionismus
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Antizionismus ist ein Oberbegriff für verschiedene heterogene Bewegungen, die den Zionismus kritisieren bzw. ablehnen. Antizionismus als politische Bewegung entstand im 19. Jahrhundert in Reaktion auf den aufkommenden Zionismus, Unterstützung fand die Bewegung sowohl unter gläubigen als auch unter säkularen Jüd*innen in Jerusalem, den USA, in Europa und Russland. Gegner*innen des politischen Antizionismus versuchten von Beginn an, entsprechende Initiativen als antisemitisch zu diffamieren. Durch die denunziatorische Behauptung, eine antizionistische Haltung sei immer auch antisemitisch, sollen antizionistische Initiativen verunmöglicht werden – mit dem Ziel, die Kritik am politischen Zionismus als koloniale Bewegung zum Verstummen zu bringen, und damit zugleich die Kritik am Staat Israel zu unterbinden.
In Deutschland werden antizionistische Äußerungen seit 1988 verstärkt von den Vorläufern der antideutschen Bewegung, wie etwa der Freiburger Initiative Sozialistisches Forum, als „neuer Antisemitismus von links“ angegriffen. Daran lässt sich zunächst eine Verdrehung der Tataschen festmachen, da Antisemitismus historisch ja gerade von links aus bekämpft wurde (wie etwa vom Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund)1. Antizionistischer Kritik wird oft vorgeworfen, sie spreche Israel das Existenzrecht ab. In diesem Zusammenhang wird auch behauptet, Kritik an Israel sei nicht dasselbe wie Kritik an anderen Staaten. Oft wird den Kritikern Israels vorgeworfen, dass sie das Vorgehen Israels besonders düster und dämonisierend darstellen2. Umgekehrt schaffen solche Vorwürfe jedoch genau die Atmosphäre oder Unschärfe, die sie selbst kritisieren. Der damit diffus gemachte und generell immer mögliche Vorwurf des Antisemitismus, bringt Journalist*innen dazu, Fakten über das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza in deutschen Zeitungen oft gar nicht oder erst verspätet darzustellen. Kritik an Israel wird von Antisemitismusbeauftragten mitunter als eine „Spielart des Judenhasses“3 bezeichnet. Solche Zuschreibungen wurden zuletzt verstärkt auch auf Studierende angewendet, die sich für einen Waffenstillstand in Gaza einsetzen. Reproduktionen derartiger Diffamierungen erscheinen anschließend jeweils in nahezu sämtlichen deutschsprachigen Medien – von der Bild-Zeitung bis zu Talkshows im Fernsehen4.
Trotz heterogener Strömungen innerhalb der Bewegung sind sich die meisten Antizionist*innen einig, dass die politische zionistische Bewegung zur Schaffung eines souveränen jüdischen Staates in der Region Palästina aus abzulehnen ist – sei es aus religiösen, antinationalen, antikolonialen Überzeugungen)5.
Der formale Antizionismus entstand im späten 19. Jahrhundert in Reaktion auf Theodor Herzls Vorschlag, in Palästina ein unabhängiges Land für Jüd*innen zu schaffen, die in Europa verfolgt wurden. Er beschreibt dies in Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage (1896). Doch bereits vor Herzl rief die von unter anderen von dem Philosophen Moses Hess (1862)6 oder dem Arzt Leo Pinsker (1882)7 propagierte Idee des Zionismus heftigen Widerstand innerhalb des europäischen orthodoxen Judentums hervor8. Der deutsche Rabbiner Samson Raphael Hirsch zum Beispiel, hielt die aktive Förderung der jüdischen Auswanderung nach Palästina gar für eine Sünde.9 In seinem Essay Mauschel nimmt Herzl selbst unter Rückgriff auf antisemitische Stereotype eine Unterteilung in echte und nicht-echte Jüd*innen vor, wobei er zu letzteren vor allem die Antizionist*innen zählt10.
Schon früh wurde auch versucht, Widerstand gegen den Zionismus zu unterdrücken. Jacob Israël de Haan war ein jüdisch-orthodoxer niederländischer Rechtsanwalt, Jurist, Journalist, Dichter und Schriftsteller, der sich lautstark gegen den Zionismus äußerte. 1924 wurde er von der Hagana (der zionistischen paramilitärischen Untergrundorganisation in Palästina während des britischen Mandats) ermordet. De Haan war der Ansicht, der Kampf zwischen Jüd*innen und Araber*innen müsse beendet werden und dürfe nicht durch Krieg und Konflikt gelöst werden11. Er versuchte die Mandatsbehörden zu der Einsicht zu bringen, dass die Zionist*innen nicht die gesamte palästinensische jüdische Gemeinschaft repräsentierten.
In den USA fand die erste große öffentliche Debatte über die Frage, ob Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen ist, mehr als zehn Jahre vor der Entstehung Israels statt. Am 5. Juni 1937 übertrug der Radiosender WNYC eine Veranstaltung in einer Stadthalle, die von der arabisch-amerikanischen Arab National League in New York ausgerichtet wurde. Das Programm umfasste eine Reihe von Rednern, die den Zionismus kritisierten. Daraufhin beschuldigte der New Yorker Stadtrat Samson Inselbuch den Radiosender „Antisemitismus und Rassenhass zu verbreiten“. Er initiierte eine Resolution des Stadtrats, welche die Entscheidung von WNYC anprangerte – wahrscheinlich die erste gesetzgeberische Maßnahme gegen Antizionismus in der amerikanischen Geschichte. Dennoch fanden die Arab National League und WNYC bald Verteidiger in der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft. Darunter unter anderem Vertreter*innen des National Council of Jewish Women, von B’nai B’rith, des Rabbinical Council of America (RCA) der orthodoxen Bewegung und des zionistischen American Jewish Congress (AJCongress). Zur Verteidigung des Netzwerks schrieb der Leiter des AJCongress, Rabbi Stephen Wise, ein führender Zionist, der auch den Jüdischen Weltkongress leitete, dass die Arab National League und WNYC „absurderweise des Antisemitismus bezichtigt wurden – als ob Araber und Juden gleichermaßen keine Semiten wären“. In ähnlicher Weise erklärte RCA-Präsident Rabbi Herman Goldstein, nachdem er sich die Reden angehört hatte, dass er „keinen antisemitischen Geist“ in ihnen vernommen habe. Hätte er – Goldstein – selbst WNYC geleitet, hätte er die Sendung ausgestrahlt, so der orthodoxe Rabbiner. Goldstein, der mit den arabischen Amerikanern – ebenfalls eine Minderheit – sagte der New York Times, dass es „ein trauriger Tag in Amerika wäre, wenn Minderheiten erdrosselt würden und nicht mehr in der Lage wären, ihre Ansichten zu äußern“.12
Es gibt viele unterschiedliche antizionistische Bewegungen, darunter sowohl orthodoxe als auch säkularisierte. Unter Jüd*innen waren sie bis zum zweiten Weltkrieg populär. Viele säkulare jüdische Antizionist*innen identifizierten sich zudem mehr mit den Idealen der Aufklärung und betrachteten den Zionismus als reaktionäre Ideologie. Oftmals war der Jüdische Bund ein wichtiger Bezugspunkt – eine jüdische Arbeiterpartei, die in den Jahren von 1897 bis 1935 in mehreren osteuropäischen Ländern aktiv war.13 Diese radikale sozialistische Organisation wurde zu einer mächtigen Kraft im jüdischen Siedlungsgebiet, das heißt, in dem Gebiet, auf das der jüdische Wohnsitz in den vom Russischen Reich eroberten osteuropäischen Ländern beschränkt war. Der Bund spielte nicht zuletzt auch eine wichtige Rolle in der russischen Revolutionspolitik.14
Orthodoxe Jüd*innen lehnten den Zionismus dagegen aus religiösen Gründen ab und betrachteten das Aufkommen des Zionismus als Bedrohung, insbesondere wegen seines säkularen Charakters und seiner Neudefinition des Judentums. Eine der Gemeinsamkeiten von reformierten und orthodoxen Antizionist*innen ist der Glaube an die Machbarkeit des Exils und daran, dass das Exil für die Jüd*innen etwas Positives, Konstruktives und Notwendiges sein könne. Exil würde in dem Sinne nicht Verfolgung bedeuten, sondern wäre eher ein diasporisches Exil ohne messianische Idee.15 Das orthodoxe Judentum vertrat die Ansicht, nur Gott könne die Jüd*innen aus der Diaspora befreien, worauf sie bis zur Ankunft des Messias zu warten hätten.16 Aus der orthodoxen Perspektive – sicherlich der ultraorthodoxen Perspektive – basierte der Antizionismus auf der Vorstellung, dass der Zionismus ein falscher Messianismus sei, der einer Aufhebung des Exilbundes gleichkomme, der von den Rabbinern in den ersten Jahrhunderten der jüdischen Zeitrechnung geschlossen wurde.17 In 1897 war der Widerstand der jüdischen Gemeinde in München gegen die zionistische Bewegung derart groß, dass der erste Zionistische Kongress von Herzl nach Basel verlegt werden musste18.
Der Widerstand gegen den Zionismus in der jüdischen Diaspora änderte sich erst ab den 1930er Jahren grundlegend, als sich die Lebensbedingungen für Jüd*innen in Europa radikal verschlechterten und schließlich mit dem Zweiten Weltkrieg das schiere Ausmaß des Holocaust spürbar wurde. „Sobald man das Jahr 1937 oder 1938 erreicht, wandelt sich die Situation in eine Notsituation,“ schreibt der amerikanische Rabbi und Hochschullehrer Shaul Magid. „All diese zionistischen Debatten über Sozialismus und Arbeit sowie Kultur und Sprache scheinen irrelevant zu werden. Die ultimative Kraft des zionistischen Konsenses waren der Zweite Weltkrieg und der Holocaust.“19 Jedoch, so schreibt der Autor Wieland Hoban, „wenn man den Zionismus nur durch das Prisma des Holocaust betrachtet, also als Rettung der europäischen Juden vor dem Vernichtungsantisemitismus der sogenannten Nationalsozialisten, verkennt man nicht nur seine Geschichte, sondern auch den antiemanzipatorischen Kern seiner Ideologie. Denn er beruht auf dem gleichen Prinzip wie der Antisemitismus, nämlich, dass Juden und Nichtjuden nicht zusammenleben sollen. Deswegen empfand ihn Montagu als antisemitisch, und deswegen schrieb Theodor Herzl in sein Tagebuch: ‚Die Antisemiten werden unsere verlässlichsten Freunde, die antisemitischen Länder unsere Verbündeten.‘“20
Mit der Staatsgründung Israels lösen sich die jüdischen antizionistischen Gruppen zunächst mehr und mehr auf oder wandelten sich in pro-zionistische Organisationen um, obwohl viele kleine Gruppen und Organisationen wie der American Council for Judaism eine frühere Reformtradition der Ablehnung des Zionismus bewahrten.21.
Der nicht-jüdische Antizionismus umfasste ebenfalls kommunale und religiöse Gruppen, wobei die arabische Bevölkerung Palästinas sich weitgehend gegen das wehrte, was sie als koloniale Enteignung ihres Heimatlandes verstand,22 einschließlich der völkerrechtswidrigen Besetzungspolitik des Westjordanlandes und der Blockade des Gazastreifens durch Israel.
Die Beziehung zwischen Zionismus, Antizionismus und Antisemitismus wird international wissenschaftlich diskutiert. Als Beispiel hierfür kann etwa die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus23 gelten24. Dort wird etwa die „Kritik oder Ablehnung des Zionismus als eine Form von Nationalismus oder das Eintreten für diverse verfassungsrechtliche Lösungen für Juden und Palästinenser in dem Gebiet zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer“ als „nicht per se antisemitisch“ definiert. Ebenso gilt demnach als nicht antisemitisch, „Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner*innen ‚zwischen dem Fluss und dem Meer‘ volle Gleichberechtigung zugestehen, ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer.“25 Gleichermaßen wird die „faktenbasierte Kritik an Israel als Staat“ (inklusive „seine Institutionen und Gründungsprinzipien, seine Politik und Praktiken im In- und Ausland, wie beispielsweise das Verhalten Israels im Westjordanland und im Gazastreifen, die Rolle, die Israel in der Region spielt, und jede andere Art und Weise, in der es als Staat Vorgänge in der Welt beeinflusst“) als nicht-antisemitisch bestimmt. „Im Allgemeinen gelten im Falle Israels und Palästinas dieselben Diskussionsnormen, die auch für andere Staaten und andere Konflikte um nationale Selbstbestimmung gelten. Daher ist der, wenngleich umstrittene, Vergleich Israels mit historischen Beispielen einschließlich Siedlerkolonialismus oder Apartheid nicht per se antisemitisch.“26
Fußnoten