Antideutsch
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Der Begriff Antideutsch steht sowohl für die Selbstbezeichnung einer ursprünglich radikalen Gruppierung innerhalb der deutschen Linken, als auch für bestimmte politische Positionen, die sich mittlerweile in der liberalen Mitte deutscher Politik und Gesellschaft durchgesetzt haben. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Linke in den USA oder in Großbritannien mehrheitlich eine klare Position gegen den Genozid in Gaza bezieht, stellt sich die Frage, warum die Haltung vieler linker Deutscher dazu oft konträr erscheint. Um diesen Widerspruch und seine Entwicklung besser zu verstehen, ist ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der antideutschen Bewegung aufschlussreich.
Kontextualisierung eines Wandels
Als linkspolitische Bewegung hat sich die Antideutsche um die Zeit des Mauerfalls (1989 bis 1990) gebildet. Zu dieser Zeit gab es viele radikale Splittergruppen innerhalb der westdeutschen Linken und Rufe nach einer neuen linken Sammlungsbewegung wurden lauter. So entstand im April 1989 das Bündnis Radikale Linke (RL) aus einem Treffen von Vertretern der Zeitschrift konkret, der Ökosozialisten und des Kommunistischen Bunds in Hamburg. Mottos wie „Die radikale Linke will Kraft der Negation bleiben“ und „Nie wieder Deutschland“ wurden zu ihren Leitmotiven. Zu den Protagonist*innen zählte unter anderem auch der spätere „Chefideologe der Neuen Rechten“1 Thomas Elsässer2, der in der Zeitschrift ak (arbeiterkampf, später: analyse & kritik) einen Artikel veröffentlichte, der als Gründungstext der Antideutschen gilt: „Warum die Linke anti-deutsch sein muss“.
Nach der Wiedervereinigung
Zur ersten bundesweiten „Nie wieder Deutschland“-Demonstration am 12. Mai 1990 in Frankfurt am Main kamen nahezu alle links stehenden Parteien und Gruppierungen zusammen, darunter die PDS Hessen, die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), die Vereinigte Sozialistische Partei (VSP), ehemalige Grüne, der Kommunistische Bund (KB), sowie viele linksautonome Gruppen. Die letzte Demonstration unter diesem Motto fand am 3. November 1990 in Berlin statt. Kurz danach wurden die besetzten Häuser in der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain durch ein Großaufgebot der Polizei gewaltsam geräumt. Beim Protest gegen die Hausräumungen war sich die RL noch einig, kurze Zeit später kam es zu einem Bruch mit langfristigen Folgen.
Innerhalb der Radikalen Linken artikulierte sich die Angst, dass durch die Zusammenführung von Ost- und Westdeutschland der deutsche Nationalismus wieder erstarken könne. Dies führte vereinzelt auch zu einer offenen Abneigung gegenüber Ostdeutschen. Deren Sozialisation im Geiste der Internationalen Solidarität der DDR mit Palästina standen viele westdeutsche Linke misstrauisch gegenüber und denunzierten diese als eine Fehlinterpretation des Internationalismus. In der Folge bildete sich innerhalb der Linken eine Bewegung, die das Bedürfnis entwickelte, aus der Geschichte des Nationalsozialismus die vermeintlich richtigen Schlüsse zu ziehen. Als Konsequenz forderten sie die uneingeschränkte Solidarität mit dem Staat Israel.
Die Spaltung der Linken
So verstärkte sich eine Entwicklung, die sich bereits nach Beginn der Intifada im Dezember 1987 als erbitterter Streit um die Frage der Palästina-Solidarität innerhalb der Linken abgezeichnet hatte. Entscheidend für die endgültige Spaltung der Radikalen Linken wurde der Raketenbeschuss des Iraks auf Israel im Januar 1991 im Zuge des 2. Golfkriegs. Pazifistische Positionen innerhalb der RL, die jegliche Kriegshandlungen ablehnten, wurden nun mit der Gefahr einer solchen Haltung für Israel konfrontiert. Im gleichen Jahr erlebte Deutschland eine Vielzahl rechtsextremer, gewaltsamer Ausschreitungen in Hoyerswerda und in anderen deutschen Städten. Die Anschläge auf ein Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992 lösten schließlich ein Gefühl der Ohnmacht in der gesamten Radikalen Linken aus.
In der Folge spaltete sich die Radikale Linke in die Lager der Antideutschen und der Antiimperialisten. Diese Aufteilung war entscheidend für weitere Auseinandersetzungen mit postkolonialen Diskursen oder in der Haltung zu Themen wie Rassismus oder Kapitalismus. Die Forderung nach einer bedingungslosen Solidarität mit dem Staat Israel mag auch mit der zeitgleich erfolgenden öffentlichen Aufarbeitung der Verbrechen der Wehrmacht zusammenhängen und daraus resultierenden Versuchen, diese Taten der Eltern- bzw. Großelterngeneration nachträglich moralisch und politisch zu kompensieren. Antideutsche traten in der Folge verstärkt in intellektuelle Diskurse ein und publizierten in Zeitschriften wie Phase 2, Bahamas, konkret, Jungle World oder dem Verlag ça ira, die maßgeblich zur Verbreitung antideutscher Haltungen beigetragen haben. Über Orte der linken Jugendkultur wie das Conne Island in Leipzig, die Rote Flora in Hamburg oder das ://about blank in Berlin breiteten sich diese Positionen zunehmend in ein bildungsbürgerliches und akademisches Milieu aus. Antideutsche fingen bald an, höhere Positionen an Universitäten, in Kunst, Kultur und Politik zu bekleiden.
Texte, die der antideutschen Bewegung zugerechnet werden, verwenden häufig eine abstrakte Sprache3 und verhandeln gesellschaftliche Fragen auf eine Weise, die als distanziert und schwer zugänglich wahrgenommen werden kann. Kritiker*innen lesen in diesen Texten und Aussprüchen oftmals eine verachtende Haltung gegenüber der Arbeiter*innenklasse und anderer nichtintellektueller Bevölkerungsschichten4. Die „dumme Mehrheit“ erscheint vor allem als ein Gegner, den es zu bekämpfen gilt5. Haltungen wie diese scheinen traditionellen Anliegen der Linken wie der Emanzipation von Unterdrückung diametral entgegenzustehen.
Zudem wird der Bewegung ein Ersatznationalismus attestiert: während der Nationalismus in Bezug auf Deutschland radikal abgelehnt wurde, kann er in Bezug auf Israel ausgelebt werden. Dies zeigt sich beispielsweise im performativen Zur-Schau-Stellen nationalstaatlicher und militärischer Symbole wie dem Hissen der israelischen Flagge oder dem Tragen von Hemden des israelischen Militärs. Während die Antideutsche einen Großteil der globalen Befreiungsbewegungen als legitim erachtet, gilt ihr die Palästina-Solidarität als problematisch und tendenziell antisemitisch.
Über den Vorwurf eines vermeintlichen Antisemitismus versucht die Antideutsche Bewegung, die Stimmen von Palästinenser*innen in Deutschland systematisch zum Verstummen zu bringen. Zeitungen wie die BILD, ebenso wie private und öffentlich-rechtliche Fernsehredaktionen schwenkten mehr und mehr auf dieses Narrativ ein und verbreiteten diese Sichtweise. Dies kann im Zusammenhang mit anderen globalen, politischen Ereignissen der Zeit (US-Kriege nach dem 11. September 2001 im Irak und in Afghanistan) als Wendepunkt gewertet werden, an dem sich die antideutsche Ideologie zunehmend in die breitere deutsche Gesellschaft übertrug.
Gesellschaftlicher Wandel
Die Politik der Antideutschen richtete sich in den 2000er-Jahren weniger gegen Deutschland, als vermehrt gegen migrantische Menschen6. Bei Demonstrationen wie der der Bahamas im Juli 2004 in Berlin wurde unter anderem die Schließung von Migrant*innenprojekten gefordert. In antideutschen Artikeln wurden islamische Migrant*innen pauschal in Zusammenhang mit islamistischen Selbstmordattentätern gebracht. Hier werden rassistische Tendenzen in der antideutschen Bewegung sichtbar7, die ein Abdriften ins politisch rechte Spektrum markieren. Diese Entwicklung steht in einem Spannungsverhältnis zur ursprünglichen Ausrichtung der Bewegung und ist eng mit den Dynamiken einer generell erstarkenden Rechten und schwächer werdenden Linken verknüpft.
In den 1990er- und 2000er-Jahren waren die Antideutschen einerseits als „links“ akzeptiert und ihre Ansätze innerhalb der Bewegung diskutiert. Andererseits folgten sie vermehrt einem rechten, ausgrenzenden und diskriminierenden Menschenverständnis, das linken Ansätzen diametral entgegensteht. Diese Widersprüchlichkeit führte dazu, dass die Linke oft überfordert schien und keine klare Position zu Themen wie dem palästinensischen Befreiungskampf, israelischer Besatzungspolitik, oder den ungleichen Lebensrealitäten in Israel-Palästina entwickelte. Dadurch gelang es den antideutschen Positionen, ungehindert in die Mitte der Gesellschaft vorzudringen, da sie weder kritisch hinterfragt noch intensiv debattiert wurden.
In den letzten Jahren hat sich das Phänomen der Antideutschen weiterentwickelt. Aussagen wie „Die Kritik an Israel ist vielleicht nicht per se antisemitisch, aber in Deutschland ist sie antisemitisch“ verdeutlichen diese Haltung. Sie spiegelt sich auch im scheinbaren Widerspruch vieler engagierter Menschen wider, die sich einerseits mit Geflüchteten solidarisieren oder sich gegen Rassismus einsetzen, beim Thema Palästina jedoch entweder schweigen oder sich feindselig gegenüber Palästinenser*innen äußern. Die meisten dieser Menschen würden sich selbst nicht als Antideutsche bezeichnen, doch ihr Handeln ist deutlich von den Maximen dieser Bewegung geprägt.
In der Folge ist es im deutschsprachigen Raum nicht nur zu einer Normalisierung, sondern in Teilen gar zu einer Idealisierung der israelischen Gewalt gegen Palästinenser*innen gekommen. Jegliche Kritik an Israel wird dabei reflexartig als antisemitisch verurteilt. Studierende, die für die Rechte von Palästinenser*innen protestieren, werden in der BILD8 oder bei Markus Lanz9 als „Judenhasser“ diffamiert. Entscheidende Informationen über die ungleichen Lebensrealitäten in Israel-Palästina werden in deutschen Medien zurückgehalten oder unsichtbar gemacht – anders als in vielen englischsprachigen Medien. Dies führt zu einem scheinbar absichtlich erzeugten Unwissen, das viele Deutsche beeinflusst und als Teil einer antideutschen Einschüchterungskampagne gewertet werden kann10, die bewirkt, dass wenige deutsche Politiker*innen und Medien die Vorgehensweise der israelischen Regierung in Gaza kritisieren. In Zusammenhang mit Solidaritätsdemonstrationen für Palästina wird häufig von gewalttätigen Vorfällen berichtet. Antizionistische Äußerungen werden konsequent als antisemitisch diffamiert. Zudem greifen Medienberichte selbst oft auf antisemitische Zuschreibungen zurück, etwa wenn jede Art von Widerstand gegen den Finanzkapitalismus als strukturell antisemitisch dargestellt wird (etwa bei den Blockupy-Protesten).
Die seit 2018 vermehrt auftretenden Antisemitismusvorwürfe und die Ausladungen von Künstler*innen, Theoretiker*innen, Filmemacher*innen, Wissenschaftler*innen und anderen, spiegeln eine ideologische Prägung der gesamten Gesellschaft als gemeinsam ausgelebte, antideutsche Haltung wider. Eine neue Dimension dieses gesellschaftlichen „Überwachens und Strafens“ zeigt sich in Anprangerungen, die oft in sozialen Medien oder in Zeitungsartikeln stattfinden. Wo einst nur einzelne Zeitschriften die antideutsche Haltung reproduzierten, kulminiert diese Entwicklung heute in einer generellen medialen Einseitigkeit mit wenigen Ausnahmen. Dies resultiert in einen Medienkodex der Verunglimpfung insbesondere gegenüber migrantischen Menschen und palästinensischen Stimmen, und einem Ungleichgewicht darin, welche Perspektiven Gehör finden und welche weitgehend ausgeblendet bleiben.
Fußnoten