Philosemitismus
Beitrag
Philosemitismus bezeichnet eine wohlgesinnte Haltung von nicht-jüdischen Menschen gegenüber Jüd*innen und jüdischer Kultur. Philosemitismus kann viele Formen annehmen und sich je nach zugrundeliegender Motivation auf unterschiedliche jüdische Gruppierungen richten. In besonders ausgeprägter Form werden dabei Vorurteile bedient und verschärft, was Jüd*innen in ihrer Selbstbestimmung einschränken und sogar paradoxerweise antisemitische Züge annehmen kann. Dass sich Philosemitismus auch gegen Jüd*innen richten kann, ist historisch und aktuell belegt und wird von vielen Jüd*innen als ähnlich bedrohlich empfunden wie offener Antisemitismus.
Objektiv und wortwörtlich gelesen ist der Begriff positiv ausgerichtet. Er war jedoch bei seiner Einführung im deutschen Sprachraum um 1865 zunächst ein politischer Abgrenzungs- und Kampfbegriff. Er wurde von Antisemit*innen in abfälliger Weise verwendet, die sich damit von ihren politischen und nicht-jüdischen Gegner*innen abgrenzen wollten. Der Historiker Heinrich von Treitschke hatte ihn 1880 in einem Aufsatz verwendet, um Linksliberale als „Judenfreunde“ zu diffamieren. In den darauffolgenden Jahrzehnten kam der Ausdruck in vielerlei gesellschaftlichen, historischen und politischen Zusammenhängen in Deutschland sowohl wertschätzend als auch abwertend zur Anwendung.
In der Nachkriegszeit ab 1945 fiel dem philosemitischen Diskurs eine besondere Rolle zu. Schuldgefühle gegenüber Überlebenden des Holocaust wurden durch eine philosemitische Haltung überdeckt. Dem ging jedoch nicht zwingend eine Aufarbeitung antisemitischer Vorurteile voraus, so dass eine Art umgekehrter Antisemitismus entstehen konnte, der vordefinierte Vorstellungen von jüdischem Leben wertschätzt, davon abweichende Realitäten aber ausgrenzt und die Komplexität und Vielfalt jüdischen Lebens negiert. So wurden beispielweise Jüd*innen in Osteuropa weiterhin antisemitisch verachtet, während das wenige noch existente jüdische Leben in Deutschland philosemitisch idealisiert wurde.
Ähnlich wie beim Antisemitismus basiert diese Form des Philosemitismus auf der Vorstellung, dass Jüd*inen in einer bestimmten Weise anders sind als andere Menschen. Eine solche Haltung negiert nicht nur die Vielfalt jüdischen Lebens. Sie ist letztendlich auch in ihrer Grundannahme rassistisch motiviert, insofern sie einer Gruppe negative bzw. in diesem Fall positive Eigenschaften zuschreibt und Gruppenzugehörigkeiten hierarchisiert. Paradoxerweise kann sich eine extreme Form des Philosemitismus somit auch gegen Jüd*innen und andere Semit*innen richten.
Aufgrund der historischen Verantwortung gegenüber den Millionen von Nazis ermordeten Jüd*innen ist diese Haltung in Deutschland nicht unüblich. Sie wurde aber gerade von Jüd*innen als paternalistische Haltung ihnen gegenüber breit kritisiert. Hinzu kommt, dass in der heutigen Auseinandersetzung mit Israel und Palästina häufig Zionismus und Judentum miteinander gleichgesetzt werden. Der Philosemitismus kann sich dabei in einer vorbehaltlosen Verteidigung der aktuellen Regierung Israels äußern, ohne deren politische Ausrichtung und Handlungen oder Urteile internationaler Gerichtsbarkeiten zu berücksichtigen, etwa das des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag vom 19. Juli 2024. Im Namen des Philosemitismus kann diese Gleichsetzung von Judentum und Zionismus wiederum dazu führen, dass in Deutschland lebende Jüd*innen als antisemitisch diffamiert und rechtlich verfolgt werden, wenn sie sich kritisch gegenüber der israelischen Regierung äußern. Im Namen der Bekämpfung von Antisemitismus kann somit ihr Recht auf freie Rede und Selbstbestimmung als Jüd*innen eingeschränkt werden, wenn ihre Haltung gegenüber der israelischen Regierung nicht mit der deutschen Staatsräson übereinstimmt.