Genozid

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Der Genozid in Gaza

Südafrika bezichtigt Israel des Völkermordes an den Palästinenser*innen und hat vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) eine entsprechende Klage eingereicht.1 Zur Begründung führt Südafrika an, Israel habe durch die militärischen Operationen im Gazastreifen seit dem Angriff der Hamas auf das Supernova-Musikfestival am 7. Oktober 2023 mehrfach gegen die UN-Völkermordkonvention verstoßen.2 Israel versuche die Bevölkerung in den Palästinensergebieten systematisch zu zerstören – dies, indem lebensnotwendige Infrastrukturen wie die Lebensmittel- und Wasserversorgung gekappt, Millionen von Menschen vertrieben, Flächenbombardements in dicht besiedelten Gebieten durchgeführt, und massenhaft Zivilist*innen getötet werden. Israel verursache dadurch eine humanitäre Katastrophe genozidalen Ausmaßes.

Die in diesem Zusammenhang verletzten Prinzipien der Genfer Konventionen spielen eine zentrale Rolle in der Klage Südafrikas. Sie legen beispielsweise fest, dass militärische Operationen gegen Zivilist*innen strikt verboten sind. Im Falle einer militärischen Besatzung ist die Besatzungsmacht verpflichtet, die grundlegende Versorgung der Zivilbevölkerung sicherzustellen. Jegliche Formen von Grausamkeiten wie Vergewaltigungen und Folter sind verboten. In Krieg gegen die Palästinenser*innen ignoriere Israel diese Grundsätze, so die südafrikanische Argumentation. Israel seinerseits bestreitet diese Vorwürfe vehement und insistiert, es handle sich bei den militärischen Operationen um legitime Selbstverteidigungsmaßnahmen gegen die Hamas – eine Gruppierung, die in den Augen Israels als terroristische Organisation gilt.

Auch die deutsche Bundesregierung weist die Anschuldigungen, wonach Israel einen Genozid an den Palästinenser*innen betreibt, als unbegründet zurück. In der deutschen Berichterstattung über diese Genozidklage und den andauernden Krieg in Gaza herrscht eine bemerkenswerte Zurückhaltung – im Vergleich mit entsprechenden Nachrichten in der internationalen Presse und den sozialen Medien. Diese Zurückhaltung wird von vielen auf die deutsche Staatsräson zurückgeführt – also auf das nationale Selbstverständnis, das sich aus Deutschlands politischer und historischer Nähe zu Jüd*innen und zu Israel als jüdischem Staat ergibt.3 Aufgrund des Holocausts bildet Israels Fortbestehen als ethnisch definierter Nationalstaat auch einen Grundpfeiler des Nationalstaates Deutschland.

Manche sehen in der deutschen Staatsräson aber auch eine historisch gewachsene Form der Befangenheit gegenüber Israel – eine Unfähigkeit oder einen Unwillen, die Palästinenser*innen und ihr Leid wahrzunehmen. Um den Vorwurf zu entkräften, Israel betreibe nicht nur Krieg, sondern einen Genozid, wird in der Regel ein Hauptargument vorgebracht: Israel habe das Recht, sich selbst zu verteidigen, selbst dann, wenn es auf palästinensischem Boden, also außerhalb der eigenen Staatsgrenzen, operiert und beispielsweise seine Siedlungen im besetzten Westjordanland militärisch verteidigt. Dem widerspricht der Internationale Gerichtshof in einem Gutachten vom 19.07.2024. Israel habe in den 1967 eroberten Palästinenser-Gebieten in Ost-Jerusalem und dem Westjordanland keine eigenen Bürger*innen ansiedeln dürfen.4 Bestehende Siedlungen müssten deshalb unverzüglich geräumt und den Palästinenser*innen Reparationszahlungen geleistet werden.

Das Argument, Israel habe das Recht auf Selbstverteidigung, greift also nicht nur zu kurz. Es vermag auch den Vorwurf des Genozids an den Palästinenser*innen nicht zu entkräften. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, die juristische und historische Definition des Tatbestands des Genozids genauer zu betrachten.

Völkermord ist die schwerwiegendste Verletzung des internationalen Rechts – ein Verbrechen, das in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassistisch oder religiös markierte Gruppe ganz oder teilweise auszulöschen. Der Begriff Genozid wurde von Raphael Lemkin geprägt und 1948 in der Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord der Vereinten Nationen formalisiert.5 Die ratifizierenden Nationen verpflichten sich dazu, Genozid als Völkerrechtsverbrechen zu verhindern und sich zur Verhütung und Bekämpfung von Genozid zusammenzuschließen.6

Gemäß Artikel II der Völkermord-Konvention umfasst genozidales Handeln dabei die folgenden schwerwiegenden Verbrechen:

  1. Systematische Tötungen von Mitgliedern der Gruppe, wie durch Pogrome oder Tötungslager
  2. Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an der Gruppe, wie durch Folter oder sexuelle Gewalt
  3. Absichtliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die darauf abzielen, die physische Zerstörung der Gruppe herbeizuführen, wie durch Zwangsarbeit oder systematische Unterernährung
  4. Verhängung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung, wie durch Zwangssterilisation
  5. Gewaltsame Überführung von Kindern aus der betroffenen Gruppe in eine andere Gruppe

Der Tatbestand des Völkermords kann auch dann erfüllt sein, wenn nicht alle in Artikel II der Völkermord-Konvention aufgeführten Verbrechen nachgewiesen werden. Die Konvention betont zudem, dass Völkermord nicht verjährt – was allerdings nur für genozidale Verbrechen gilt, die nach dem Inkrafttreten der Konvention im Jahr 1951 begangen wurden. Israel hat die Völkermordkonvention am 9. März 1950 ratifiziert. Die Vertreibung hunderttausender Palästinenser durch das israelische Militär und durch zionistische Kräfte vor, während und nach der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948, begleitet von Massenmorden und der Zerstörung zahlreicher palästinensischer Dörfer, fällt daher nicht unter die Bestimmungen von Artikel II und kann rechtlich nicht als Völkermord im Sinne dieser Konvention geahndet werden.

Diese Vertreibung, ein historisches Ereignis, das in der arabischen Welt gemeinhin als Nakba (arab. für Katastrophe oder Unglück) bezeichnet wird, wird von vielen als ein genozidales Verbrechen betrachtet. Die Nakba wird jedoch nicht nur als abgeschlossenes Ereignis, sondern als fortlaufender Prozess (und neuerdings auch als juristischer Begriff) wahrgenommen, wie die anhaltende Zerstörung Gazas verdeutlicht.7

Die Kontinuität der Nakba zeigt sich nicht nur in den anhaltenden Gräueltaten gegen die Palästinenser*innen, die von KI-gesteuerten Hellfire Missiles und bunkerbrechenden Bomben der IDF massenhaft getötet werden, sondern auch in der fortwährenden Entmenschlichung und Verachtung, die ihnen von israelischen Politiker*innen, Zivilist*innen und Prominenten entgegengebracht werden.

Ein signifikantes Beispiel hierfür ist eine Rede von Premierminister Benjamin Netanjahu vom 28. Oktober 2023, also drei Wochen nach dem Anschlag der Hamas auf das Supernova-Festival. Darin adressierte er das israelische Volk mit folgenden Worten: „Erinnert euch, was Amalek euch angetan hat, so steht es in unserer Heiligen Bibel.“8 Mit diesem Zitat verglich er die Palästinenser mit dem biblischen Erzfeind des Volkes Israel, der Nation Amalek. Laut dem Buch Samuel sollten die Israeliten die Amalekiter nach einem heimtückischen Angriff auf Gottes Geheiß hin ohne Gnade bekämpfen und vernichten. Netanjahu und sein Kriegskabinett verwenden diese Invokation religiösen Hasses, um die israelische Gesellschaft auf die volle Härte der Militäraktionen gegen die Hamas und die palästinensische Zivilbevölkerung einzuschwören.

Mit Erfolg. In der israelischen Zivilbevölkerung fand diese religiöse Hetze Resonanz in allen demografischen Schichten. So stürmte das Hiphop-Duo Stilla & Nes mit seiner hebräischen Kriegshymne “Harbu Darbu” die israelischen Charts und wiederholte Netanjahus Aufruf zum Völkermord, nachfolgend in englischer Übersetzung: “Who are you, thinking you can come here and yell ‚Free Palestine‘!? [spits] You sons of Amalek! Whoop! Destruction!“.

In den sozialen Medien wurde der Song tausendfach geteilt, zugleich wurde eine Welle an Häme gegenüber zivilen Opfern von Vertreibung und Tötung losgetreten. Beispielsweise durch den TikTok-Trend, sich mit Tüchern als Araber*innen zu verkleiden, Zahnlücken anzumalen und so zu tun, als würde man verhungern oder verbluten.

Derlei rassistische Markierungen von In- und Out-groups sind typische Warnsignale für Genozide. Sie sind Teil des Prozesses der Entmenschlichung, die nötig ist, um Massenmorde zu normalisieren. Nach Gregory Stanton, dem Gründer von Genocide Watch, entspricht dies dem eskalativen Verlauf von Völkermorden, den er in zehn Stufen9 unterteilt:

  1. Klassifikation: Es werden scharfe Trennlinien zwischen „uns“ und „den anderen“ anhand sozialer Zugehörigkeiten, wie Nationalität, Religion oder durch Rassifizierung, gezogen.
  2. Symbolisierung: “Die anderen” werden als solche markiert und öffentlich kenntlich gemacht, z. B. Jüd*innen durch den gelben Davidstern während des Holocausts.
  3. Diskriminierung: Es folgen systematische Benachteiligungen der betroffenen Gruppe durch Gesetze, Bräuche oder politische Macht.
  4. Dehumanisierung: Die betroffene Gruppe wird durch Propaganda entmenschlicht und als minderwertig, schädlich oder gar tierhaft dargestellt.
  5. Organisation: Der Staat oder auch paramilitärische Gruppen planen den Völkermord an der betroffenen Gruppe.
  6. Polarisierung: Feindseligkeiten zwischen den sozialen Gruppen werden durch Hetze einflussreicher Personen verstärkt.
  7. Vorbereitung: Der Massenmord wird konkretisiert, zum Beispiel durch Todeslisten oder die Schaffung von Lagern.
  8. Verfolgung: Mitglieder der betroffenen Gruppe werden identifiziert, isoliert und oft unter katastrophalen Bedingungen inhaftiert.
  9. Vernichtung: Massentötungen werden durchgeführt und euphemistisch als Vernichtung bezeichnet, weil die Opfer nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden.
  10. Leugnung: Die genozidale Gruppe und ihre Verbündeten leugnen, verharmlosen und relativieren den Völkermord, vernichten Beweise und machen Zeug*innen mundtot.

Gerade weil genozidale Gruppen ihre eigenen Verbrechen leugnen und ihre Mitglieder sowie internationalen Verbündeten oft einflussreiche Positionen in Politik, Justiz und Medien innehaben, gestaltet sich die Anwendung der Völkermord-Konvention in der Praxis oft langwierig und schwierig. Doch ebenso, wie an einem Genozid nicht nur politische Entscheidungsträger*innen sondern auch die Zivilgesellschaft Anteil hat, braucht es mehr als nur politisches Handeln, um ihn zu stoppen – vielmehr ist auch der entschlossenen Widerstand der Zivilgesellschaft nötig.

Die vorliegenden Fakten deuten darauf hin, dass die israelischen Militäraktionen im Gazastreifen den Tatbestand des Völkermords im Sinne der UN-Völkermordkonvention erfüllen. Die systematische Zerstörung der gesamten lebenswichtigen Infrastruktur, die Vertreibung aller Bewohner*innen und die gezielte Tötung tausender Zivilist*innen legen eine genozidale Absicht nahe. Die internationale Gemeinschaft – insbesondere Länder mit historischer Verantwortung wie Deutschland – muss sich der moralischen und rechtlichen Pflicht stellen, diese Vorwürfe ernst zu nehmen und weitere Gräueltaten verhindern.

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