Holocaust
Beitrag
Das Gedenken an den Holocaust als „singuläres“ Menschheitsverbrechen hat die deutsche Identität entscheidend geprägt. Ein wiedervereinigtes Deutschland ohne die zentrale Rolle, die dem Holocaustgedenken zukommt, ist nicht denkbar. Der einst kollektiv verdrängte Holocaust hat sich zum Emblem eines neuen „verantwortungsbewussten“ Deutschlands gewandelt, das seine Lehren aus der Vergangenheit gezogen hat. Im Rahmen dieses Prozesses wurden die Reste von Schuld und Scham zwar nicht vollständig aufgearbeitet, aber in ein neues nationales Selbstverständnis umgeschmolzen, in dem „Staatsräson“ und die besondere deutsche „Verantwortung“ gegenüber dem Staat Israel miteinander verschmolzen.
Die deutsche Gedenkkultur
Der Holocaust als ein singuläres Menschheitsverbrechen,1 das seit Mitte der 1980er Jahre häufig mit dem Ausdruck „Zivilisationsbruch“2 belegt wird, steht im Zentrum der deutschen Erinnerungskultur3. Diese Erinnerungskultur hat das politische, moralische und kulturelle Selbstverständnis des wiedervereinigten Deutschlands entscheidend geprägt und bildet ein wichtiges Bindeglied zwischen individuellen Familiengeschichten und öffentlicher Symbolpolitik staatlicher Akteure.
Ein wiedervereinigtes Deutschland ohne die zentrale öffentliche Rolle des Holocaustgedenkens ist im deutschen Diskurs nicht denkbar. Hatte die Nazizeit die Vorstellung einer unproblematischen Kontinuität deutscher Geschichte und ihrer Wechselfälle nachhaltig erschüttert, so wandelte sich der kollektiv verdrängte Abgrund des Holocaust in das negative Wahrheitsereignis eines neuen verantwortungsvollen Deutschlands, das seine Lehren aus der Vergangenheit gezogen hat. Wegmarken dieser weitreichenden Konversionsgeschichte finden sich unter anderem in Richard von Weizsäckers Rede vom 8. Mai 1985, im Historikerstreit 1986/87 und in der Debatte um den Bau des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin in den 1990er und frühen 2000er Jahren. In diesen Debatten wurden die bewussten und unbewussten Reste von Schuld, Scham und Verdrängung zwar nicht aufgearbeitet4, aber in ein neues deutsches Selbstverständnis umgeschmolzen, in dem sich schließlich Erinnerungskultur, Staatsräson und die besondere deutsche „Verantwortung“5 gegenüber dem Staat Israel verbanden und in einem neuen gesamtdeutschen Ich-Ideal verdichteten.
Singularität als psycho-politischer Glaubensartikel
Das außenpolitische Gegenstück zur innerdeutschen Erinnerungskultur findet sich in der politisch-materiellen Unterstützung des Staats, der spätestens seit dem Eichmann-Prozess glaubhaft machen kann, im Namen der Opfer des Holocaust und deren Nachfahren zu sprechen und zu agieren. Diese Unterstützung lässt sich nicht hinreichend aus machtpolitischen Allianzen des Kalten Kriegs und geostrategischen Überlegungen erklären. Sie dient nicht zuletzt den schuldökonomischen Bedürfnissen der Nachfahren des deutschen Täterkollektivs und dem Selbstbild einer geläuterten, wiedergutgemachten und „gutmachenden“ Gesellschaft.
Ob eine jüngere postmigrantische Gesellschaft, die andere Erfahrungen und Perspektiven in die im Wandel begriffene deutsche Erinnerungskultur einbringt, andere politische Schlüsse aus dieser ziehen wird, bleibt abzuwarten. Spätestens in der Debatte6 um Achille Mbembes Einladung zur Ruhrtriennale 2020 zeigte sich aber, dass es in einer globalen Debatte zunehmend schwieriger wird, das deutsche und westliche Verständnis von der Singularität des Holocaust gegen andere historische Erfahrungen und Erzählungen als den universell „singulärsten“ Fixpunkt für politisches Handeln zu behaupten. In der aktuellen Debatte trifft die demographisch-diskursive Tendenz zu einer „multiperspektivischen“7 Erinnerungskultur auf global geführte Debatten über Kolonialität, Sklaverei, Imperialismus, Genozid und Rassismus. Zugleich macht sich in den deutschen Feuilletons ein Unbehagen breit: Droht der Singularität des Holocaust die Provinzialisierung?8
Wollte man in der historischen Betrachtung gegen den grammatischen Gebrauch von singulär im Sinne von „einzig“ eine komparative Bedeutung von Singularität zulassen, so wäre im Fall des Holocaust die Aufmerksamkeit auf das Neue im Unterschied zum Wiederkehrenden in den Zusammenhängen gelenkt, die ihn als historischen Gesamtkomplex konstituieren. In der jüngeren deutschen Debatte scheint es aber nicht um eine solche historische Bedeutung von Singularität zu gehen, sondern um eine absolute.9 Damit droht der Begriff in den Bereich des Metaphysischen oder Religiösen zu kippen. Die Pointe von A. Dirk Moses‘ Streitschrift Der Katechismus der Deutschen weist in diese Richtung. Wie in der Debatte um Moses‘ Beitrag immer wieder betont,10 lebt die Geschichtswissenschaft von ihrer komparativen Fähigkeit, vom Vergleichen historischer Ereignisse, Strukturen und Motivlagen. Ein solches Vergleichen ist nicht Gleichsetzung: Es bewahrt den Status des Historischen als Zusammenhang und ebnet das Einzelne nicht in das je schon Bekannte ein. Aus der Genozidforschung ist bekannt, dass das qualitativ Neue des Holocaust als staatlich organisiertes Vernichtungsprogramm in einer neuen Kombination von Faktoren bestand, die in anderen – kolonialen, rassistischen – Gewaltzusammenhängen der kapitalistischen Moderne ihre Vorläufer hatten.11 Was sich in der Forschung aber erst ex post als Element des späteren Holocaust herausstellte – kolonialer Genozid, Lager, Dehumanisierung etc. –, ist darum weder „weniger“ singulär noch Teilaspekt einer untergeschobenen Geschichtsteleologie von ins Unermessliche sich steigernden Gewaltverhältnissen. Woher also rührt die Aufregung?
In Der Katechismus der Deutschen benennt Moses fünf Überzeugungen, die aufzeigen, wie der superlative Gebrauch von Singularität in einer erinnerungspolitischen Zivilreligion münden kann.12 Den Ausgangspunkt dieses zivilreligiösen „Katechismus“ bildet das in der Forschung weitgehend geteilte Singularitätskriterium der ideologischen Selbstbezüglichkeit des exterminatorischen Antisemitismus des NS, wonach Vernichtung als Selbstzweck intendiert war.13 Geschichtswissenschaftlich lassen sich allerdings auch andere historische Konstellationen benennen und vergleichen, in denen Selbstzwecke und deren Kalküle geschichtswirksam wurden. Als Beispiel für einen mittelbaren, nicht-intendierten (und daher „nicht-singulären“) Genozid wird häufig auf die neuzeitliche Sklaverei während des Kolonialismus verwiesen. Doch gerade hier erodiert die diskrete Trennung von Mittel und Zweck. Dass koloniale Zwecke von der Vernichtung menschlichen Lebens als Mittel und Kollateralschaden unterschieden werden können, leuchtet nur denjenigen ein, denen die mittelbaren Endzwecke, seien es Bereicherung, Profit, Macht, Unterwerfung et cetera, als Rationale zumindest denkbar sind. Für die Opfer und Nachfahren der Gewaltverhältnisse dieser Rationalität kann die Denkbarkeit dieser Zweck-Mittel-Unterscheidung nicht unproblematisch vorausgesetzt werden.
Politische Konsequenzen der Singularitätsthese
Die weiteren Stationen dieser Singularisierung des Holocaust sind bekannt: Auf die Singularisierung des Opferkollektivs folgte die Singularisierung des Staates, der im Namen dieses Opferkollektivs spricht. Wie auch der singuläre Zustand, dass ein gewaltsamer Bruch von Völkerrecht, der ansonsten auch anderen staatlichen Akteuren angelastet wird, im Fall israelischen Staatshandelns nicht nur nicht sanktioniert wird, sondern als Konsequenz einer einzigartigen Moralität erscheint. Die Moralität dieser ansonsten völkerrechtswidrigen Gewaltverhältnisse14 begründet sich hier in den singulären Sicherheitsbedürfnissen eines singulären Staates, der im Namen eines singulären Opferkollektivs und seiner Nachfahren zu sprechen behauptet.
Dieser Singularitätseffekt ist nicht geographisch begrenzt. Ist der Signifikant „Holocaust“ erst zur Chiffre des absolut Bösen entpolitisiert, kann die Singularitätsthese als die rückwirkende Bestätigung einer Weltanschauung verwendet werden, wonach der westliche Menschenrechtsdiskurs die einzig moralische Konsequenz aus der totalitären Gewaltgeschichte der Vergangenheit ist. Das Böse ist vergangen, denn die Vergangenheit ist böse.15
Die politischen Folgen dieser Singularitätseffekte sind mittlerweile gravierend und können rein wissenschaftlich nicht mehr aufgefangen werden. Diese Folgen reichen bis zum Anti-BDS-Beschluss des Deutschen Bundestags16 und machen sich in der zunehmenden staatlichen Durchsetzung der umstrittenen IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) -Definition von Antisemitismus17 in Europa, Israel und Nordamerika bemerkbar. Versuche, den politischen Kampf um die diskursive Anerkennung als „singulärste“ Opfergruppe neu zu entscheiden oder die Kategorie der Singularität selbst zu pluralisieren, führen nur tiefer in die Aporien dieser Singularitätseffekte – und für eine Umkehr ist es vielleicht schon zu spät. Möglichkeiten dazu bestehen allerdings noch: In der Ablehnung der Idee reiner Opfer- und Täteridentitäten und im Brechen mit der Denkgewohnheit, Menschen und ihre Taten zu Kollektividentitäten zusammenzufassen und gegeneinander abstrakt aufzurechnen.18
Fußnoten