Wehrhafte Demokratie
Beitrag
„Wehrhafte“ und andere Demokratien
(Deutschland, Israel-Palästina)
I.
Das Gesicht der Demokratie ist der Titel eines 1931 erschienenen „politischen Bilderwerk[s]“, das von dem einem „heißen Bestreben beseelt“ war, „dem Vaterland durch objektive Darstellung von Tatsachen und freimütige Kritik in bestem Sinne zu dienen.“1 Doch „objektiv“ war hier wenig. Das Fotobuch versammelte Pressebilder unter tendenziösen Überschriften wie „Zusammenbruch und die Politik der Erfüllung“, „Parlamentarismus, Korruption, Verelendung“, „Vom ‚Volksstaat‘ zum Polizeistaat“ oder „Die Kampfbünde. Auflösung der Demokratie“. Die Bilder (und deren Legenden) dienten allein denunziatorischen Zwecken. Das „Gesicht der Demokratie“ sollte mit ihrer Hilfe als Fratze erscheinen. Dreizehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, so der Tenor des Bandes, sei das Projekt einer parlamentarischen Demokratie liberalen Zuschnitts auf deutschem Boden endgültig diskreditiert.
In seiner Einleitung propagierte der „nationalrevolutionäre“ Autor Friedrich Georg Jünger die autokratische Identität von Nation, Staat und politischer Führung. Sie mache „jede Einschiebung parlamentarischer Körperschaften überflüssig“.2 Die Bildpolitik von Das Gesicht der Demokratie richtete sich entsprechend gegen alle Personen, Bewegungen und Organisationen, die in der Weimarer Republik für eine emanzipatorische Sozialpolitik, für Pazifismus (und gegen Militarismus) oder für die parlamentarische Demokratie selbst eintraten.

In der Abteilung „Blitzlichter“, in der es um den Zusammenhang von Kultur und Politik gehen sollte, weil „jedes Gebiet des Lebens und jede Erscheinung in ihm“ einen „Bezug auf das Politische“ hat,3 ist auf einer Doppelseite eine Installationsansicht des von Ernst Friedrich 1925 in Berlin gegründeten Anti-Kriegsmuseums abgebildet. Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein Foto, das den „Verkauf von Fahnentuch“ in der Verkaufsstelle des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold zeigt, versehen mit dem unauffälligen, aber zweifellos herablassend, wenn nicht antisemitisch zu verstehenden Zusatz: „Der Verkäufer hebt die Qualität des Tuches hervor.“4 Das liest sich, als bedürfte die schwarz-rot-goldene Fahne der Weimarer Republik eines solchen kaufmännischen Werbens, als müssten sowohl die Qualität des Materials, aus dem das Symbol gefertigt ist, als auch die der Politik, die dadurch symbolisiert wird, zunächst einmal in Zweifel gezogen werden.
Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold wurde im Februar 1924 unter Beteiligung von Kriegsveteranen als „Wehrbund“ der SPD, der Zentrumspartei und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) gegründet. Es handelte sich um eine militant-paramilitärische, ausschließlich männliche Truppe. Sie hatte sich formiert, um die Demokratie gegen den Roten Frontkämpferbund (RFB) der KPD und besonders gegen rechte „Kampfbünde“ wie Stahlhelm, Jungdeutscher Orden, Wiking, Wehrwolf, Reichsflagge und die SA, die nationalsozialistischen „Sturm- und Sportabteilungen“ zu verteidigen. Bis zu seinem Verbot im März 1933 behaupteten die etwa drei Millionen Mitglieder des Reichsbanners vor allem die politische Linie der SPD – in Straßenkämpfen, Aufmärschen und als Saalschutz. Auch für jüdische Versammlungen organisierten sie Schutz, wenn man sich auch nicht – ähnlich wie der RFB – auf einen „besonderen Schutz“ der Jüd*innen verpflichten wollte.5
II.
Wenn heute von der „wehrhaften“ oder „streitbaren“ Demokratie die Rede ist, dann leitet sich das Verständnis einer mit diesen Adjektiven angesprochenen Verteidigungsbereitschaft unter anderem von der Tradition der „Wehrbünde“ der Weimarer Republik her. Dass sich 2024 die Gründung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold zum hundertsten Mal jährte, fiel zusammen mit einer verbreiteten Stimmung der Sorge um den Zustand „der Demokratie“, deren angeblicher Verletzlichkeit und mangelnder „Wehrhaftigkeit“. Eine unüberschaubare Zahl von Publikationen widmet sich seit Jahren der bedenklichen Verfassung der Demokratie in Deutschland und anderswo, aus historischer, soziologischer oder allgemein kulturkritischer Perspektive.6 Statt von Stimmung könnte, sollte man an dieser Stelle genauer von Ideologie sprechen.7 Denn „Demokratie“ war und ist immer auch Glaubens- und Überzeugungssache. Nie verstand sie sich von selbst. Immer musste sie in Text und Bild, mit politischen und militärischen Mitteln gegen „antidemokratische“ Kräfte durchgesetzt oder gegen „Feinde“ der Demokratie verteidigt werden. Dieser kämpferische Duktus wirkt besonders in Zeiten, in denen der faktische Bedeutungsverlust demokratischer Institutionen zu dem geführt hat, was seit Langem als „Postdemokratie“ bezeichnet wird, zunehmend kontraintuitiv. Der „Intensivierung demokratischer Forderungen auf der einen Seite“ steht die „wachsende Komplexität politischer Prozesse auf der anderen Seite“ gegenüber.8
Gerade weil es sich um eine Ideologie, also um eine normative Selbstvergewisserung des demokratischen Gehalts einer Gesellschaft wie jener der Bundesrepublik Deutschland handelt, wird die Notwendigkeit und teleologisch zwingende Überlegenheit der Demokratie von ihren „Verteidiger*innen“ so vehement behauptet und verfochten. Aus Sicht der sich als „demokratisch“ verstehenden politischen Akteure erfordern die „Feinde“ der Demokratie ein defensives Wappnen, aber auch die Vorwärtsverteidigung im Namen „politischer Stabilität“.9 Die Alternative für Deutschland (AfD) gilt aus Sicht des für die Verteidigung der Demokratie zuständigen (aber spätestens mit dem „NSU-Komplex“ und der Aufdeckung rechtsradikaler Strukturen innerhalb der Behörde höchst umstrittenen) Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV)10 in einigen Bundesländern als „gesichert rechtsextrem“, genauso wie z.B. die Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“; ebenfalls als „extremistisch“ bearbeitet das BfV u.a. „Islamisten, säkular-palästinensische Extremisten, türkische Rechtsextremisten sowie deutsche und türkische Linksextremisten“, auch das klimaaktivistische Bündnis „Ende Gelände“ wird seit 2023 als „linksextremistischer Verdachtsfall“ geführt.11 Und das ist nur ein Auszug aus dem „Verfassungsschutzbericht 2023“, der die Fragilität und Gefährdung der Demokratie in Deutschland auf 400 Seiten beschwört. Der Begriff der „wehrhaften Demokratie“ wurde 1937 von dem deutsch-jüdischen Verfassungsrechtler Karl Loewenstein eingeführt – in der englischen Formulierung „militant democracy“.12 Loewensteins Antipode war Hans Kelsen, der Anfang der 1930er Jahre zu der Auffassung gelangt war, dass eine Demokratie, „die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit Gewalt zu behaupten versucht“, aufgehört habe, eine Demokratie zu sein, weil sich Demokrat*innen nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken lassen dürften, „zur Diktatur zu greifen, um die Demokratie zu retten“.13 Loewenstein lehnte eine solche rechtspositivistische „Verzauberung der formalen Gleichheit“ (enchantment of formal equality) ab; sie hindere die Demokratie daran, „diejenigen Parteien aus dem Spiel zu nehmen, die dessen fundamentale Regeln nicht anerkennen“ (to exclude from the game parties that deny the very existence of its rules).14
Welche Widersprüchlichkeiten mit der Umsetzung einer, immer wieder mit dem Grundgesetz in Verbindung gebrachten (obwohl dort nicht wörtlich so genannten)15 „wehrhaften Demokratie“ verbunden sein können, zeigt der Streit um das sogenannte Demokratiefördergesetz (eigentlich: Gesetz zur Stärkung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention und politischen Bildung) der bis Ende 2024 amtierenden Regierungskoalition von SPD, Bündnis
90/Die Grünen und FDP. Die Initiative zu einem solchen Gesetz kann auf eine inzwischen längere Vorgeschichte zurückblicken. Nach von Rechtsradikalen verübten Anschlägen auf die Synagogen in Erfurt, Düsseldorf und Berlin-Kreuzberg im April und Oktober 2000 hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) zum „Aufstand der Anständigen“ aufgerufen, dem am 12. Oktober 2000 eine Bundestagsaussprache zum „Schutz jüdischen Lebens“ folgte. Hier stellte die SPD-Abgeordnete Gabriele Fograscher Pläne für ein „Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt“ vor, als Teil einer zu gewährleistenden „wehrhaften Demokratie“.16 In den kommenden Jahren und Jahrzehnten folgten, zumeist in Reaktion auf antisemitisch und rassistisch motivierte terroristische Anschläge, immer neue Initiativen wie das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ (seit 2015) oder der Antrag auf ein Demokratiefördergesetz durch Bundestagsabgeordnete der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 17. Juni 2020.17 Letzterer sollte zur Vorlage für das besagte Demokratiefördergesetz werden, das jedoch trotz eines Kabinettsbeschlusses aus dem Jahr 2022 bis heute nicht im Bundestag verabschiedet werden konnte. Die Oppositionsparteien, aber auch die mitregierende FDP haben dies bisher verhindert. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages formulierte verfassungsrechtliche Bedenken.18 Dabei steht mehr zur Debatte als Gesetzgebungskompetenz. Die einen verstehen nicht, warum es überhaupt ein Bundesgesetz zur Demokratieförderung braucht. Den anderen geht der Entwurf nicht weit genug. Wieder andere befürchten die einseitige Förderung „linker“, „woker“ Projekte und damit die Beschneidung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit – und, so fragen sich besonders um „Wehrhaftigkeit“ Besorgte: wo ist eine härtere „Extremismusklausel“?
Vieles erinnert augenblicklich an eine Beobachtung von Hans Magnus Enzensberger zum Rechtsstaat in den späten 1970er Jahren, zu Zeiten der „Wahnidee der perfekten ‚Inneren Sicherheit‘“, als Wörter wie „Radikalenbeschluss“ und „Rasterfahndung“ für das Regierungshandeln in der Bundesrepublik standen:
Die politische Realität, mit der wir es hier zu tun haben, ist offenbar ein Kuddelmuddel. Was in den Köpfen jener Leute vorgeht, die Westdeutschland regieren, das zu ermitteln ist eine kaum lösbare Aufgabe. Man hat den Eindruck, dass sie ziemlich durcheinander sind.19
Nun mögen Vergleiche zwischen Jahrzehnte auseinanderliegenden Zuständen und Situationen immer hinken. Auch die Doktrin der „Inneren Sicherheit“ der 1970er und 1980er Jahre ist historisch zu spezifisch, als dass sie mit den aktuellen sicherheitspolitischen und obrigkeitsstaatlichen Konzepten und Strategien zur Abwehr „antidemokratischer“ oder „extremistischer“ Parteien, Organisationen und Bewegungen ohne weiteres in eins gesetzt werden sollte. Trotzdem gibt es auffällige Parallelen: das verbreitete Empfinden einer Krise der Rechtsstaatlichkeit oder die zunehmend autoritären Züge, die das Agieren der Exekutive aufweist (ob es um die Einschränkung der Grundrechte während der Corona-Jahre oder um die schleichende Erosion der Gewaltenteilung geht, wie sie sich unter dem Eindruck des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine oder des Krieges in Gaza seit dem 7. Oktober 2023 vollzieht).
Gewagt, aber nicht unbedingt verwunderlich mag auch eine Verknüpfung zwischen dem aktuell geführten Kampf gegen als „antidemokratisch“ ausgewiesene Parteien, Organisationen und Bewegungen mit der Geschichte von „Weimar“ erscheinen. Aber es ist vielleicht mehr als ein Zufall, dass ausgerechnet jetzt an den „Wehrbund“ Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold erinnert wird (unter anderem mit einer Ausstellung im Bundestag)20: als historischem Modell demokratischer Wehrhaftigkeit.21 Das Eintreten für die „parlamentarische, demokratische Republik“ geht beim „Reichsbanner“ schon seit langem mit einem ausgeprägten Engagement für Israel einher. Mitglied Robert Becker schreibt 1980, die Unterstützung Israels sei nicht nur aus „Schuldgefühl“ und wegen der „besonderen Pflicht“ Deutschlands nötig: „allein schon als Verfechter einer demokratischen und rechtsstaatlichen Regierungsform“ verstehe es sich von selbst, „den Frieden des jüdischen Staates Israel sichern zu helfen.“22 Auch in seinem Grundsatzprogramm von 2014 bekannte sich das Reichsbanner „zum Bemühen um immerwährende Freundschaft und Solidarität mit dem jüdischen Volk und das Existenzrecht des Staates Israel. […] Dies nicht zuletzt, da auch jüdische Mitbürger zu den Gründungsvätern des Reichsbanners zählten.“ Zugleich heißt es: „Das Reichsbanner erhebt aber ebenso seine Stimme für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts und für einen lebensfähigen palästinensischen Staat in friedlicher Nachbarschaft zu Israel.“23
III.
In vielfacher Hinsicht scheint sich Israel als der paradigmatische Beispielfall einer „wehrhaften Demokratie“ anzubieten. Wehrhaft ist Israel im Wortsinn, denn seit 1948 wird der militärische Ausnahmezustand (Matzav Cherum) regelmäßig verlängert. Der israelische Rechts- und Politikwissenschaftler Raef Zreik schreibt, das heutige „israelische Selbst“ sei seit dem Sechstagekrieg von 1967 und dem Siedlungsprojekt aus einem „fortwährenden Diskurs der Selbstverteidigung“ hervorgegangen, konstituiert und rekonstituiert worden.24 Und gelegentlich wird in diesem Zusammenhang das deutsche Verfassungsgut der „wehrhaften Demokratie“ ins Spiel gebracht.
Die Einführung des Begriffs der „self-defending democracy“, der „sich selbst verteidigenden Demokratie“, steht im Zusammenhang mit der Entscheidung des Staates Israel im Jahr 1965, die Kandidaten der Sozialistischen Partei, die vom nationalistisch-kommunistischen, pan-arabischen „al-‘Ard“ (das Land) aufgestellt worden waren, daran zu hindern, an den Wahlen zur sechsten Knesset teilzunehmen. Dem Obersten Gerichtshof zufolge war die „sich selbst verteidigende Demokratie“ dadurch definiert, dass „der Staat eine implizite Befugnis besitzt, ähnlich wie bei der Selbstverteidigung, subversive Versuche zu bekämpfen, die darauf abzielen, ihn zu zerstören.“25 Der berichterstattende Richter Joel Zussman berief sich in seiner Urteilsbegründung zum Verbot der „al-‘Ard“-Partei auf das westdeutsche Bundesverfassungsgericht und dessen Verbote der Sozialistischen Reichspartei (SRP) von 1952 und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) im Jahr 1956. In bestimmten Fällen, so Zussman, gebe es dem Naturrecht entstammende Erwägungen, die über jeder Verfassung und Gesetzgebung stünden:
So wie ein Individuum nicht verpflichtet ist zuzustimmen, ermordet zu werden, so ist auch kein Staat verpflichtet, seine Zustimmung zu geben, vernichtet und von der Landkarte ausgelöscht zu werden […] Das deutsche Bundesverfassungsgericht […] spricht von einer ‚kämpfenden Demokratie‘, die ihre Türen nicht für Sabotageakte in der Aufmachung parlamentarischer Aktivitäten öffnet. Ich selbst, soweit dies Israel betrifft, bin darauf vorbereitet, mich auf eine ‚sich selbst verteidigende Demokratie‘ zu beschränken, und Instrumente zur Verteidigung der Existenz des Staates sind vorhanden, auch wenn wir diese nicht im Detail im Wahlrecht niedergeschrieben finden.26
Für den israelischen Rechtshistoriker Ron Harris demonstriert der Fall von al-‘Ard, wie schwierig es ist zu beurteilen, ob eine politische Partei zu Gewalt neigt oder nicht, ob sie die demokratische Form der Regierung bejaht oder negiert. Das Verfahren gegen al-‘Ard zeige, dass das Verbot von Parteien, die es darauf absehen, die Ziele eines Staates zu ändern, einen neuralgischen Punkt berührt: „einer, der gleichzeitig die Identität eines Staates exponiert und die Grenzen, die diese der demokratischen Teilhabe setzt.“27 Die palästinensische Historikerin Leena Dallasheh weist analog darauf hin, dass die kurze Geschichte von al-‘Ard, die von 1959 bis zu deren Verbot (und der Verhaftung und Umsiedlung vieler ihrer Mitglieder) im Jahr 1965 dauerte, ein Beispiel für die Beschränkungen der Demokratie und des Staatsbürgerrechts Israels sei: „obwohl es den Palästinenser*innen erlaubt ist, am System zu partizipieren, ist es ihnen verboten, dessen Grundlagen herauszufordern.“28 In den Augen von Dallasheh gehörte Al-‘Ard zu der Bewegung palästinensischer Staatsbürger*innen, die Israels Demokratiemodell in Frage stellten,
indem sie ihre Rechte wahrnahmen, ihren Status als Teil des neuen Staats und dessen Geschichte auszuhandeln. Diese Versuche trafen auf die tiefreichende Repression Israels und ein extensives System, dass die israelische Regierung nutzte, um Kontrolle über die Palästinenser*innen auszuüben.29
Ein weiteres dieser Kontrollinstrumente ist das sogenannte Nakba-Gesetz, mit dem die Knesset im März 2011 dem Finanzministerium freistellte, staatlich geförderten Institutionen, die der Nakba gedenken, die Zuschüsse zu kürzen. Auch in diesem Fall einer antipalästinensischen Gesetzesvorlage zog die Regierung zur eigenen Rechtfertigung den Vergleich mit dem deutschen Rechtsprinzip der „wehrhaften Demokratie“, weil es hier darum ginge, die Werte Israels als „jüdischer und demokratischer“ Staat zu verteidigen.30
IV.
Neben der historischen Verantwortung für die Ermordung von sechs Millionen Jüd*innen und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit eines schützenden Staatsgebildes für alle Jüd*innen wird die politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung Israels durch die Bundesrepublik Deutschland begründet mit der Überzeugung, dass Israel die einzige (funktionierende, wahre) Demokratie im Nahen Osten sei. Sie trägt maßgeblich zur Entschlossenheit bei, die deutsche Regierungen, die klare Mehrheit der Abgeordneten des Bundestags und viele zivilgesellschaftliche Akteure und Lobbygruppen sowie eine Mehrheit der großen Medien in ihrer Verbundenheit zu Israel und bei der Verteidigung seines Existenzrechts demonstrieren. Der vehemente Rekurs auf die deutsche „Staatsräson“ begründet sich nicht zuletzt mit dieser als Konsens vorausgesetzten Gewissheit über die demokratische Verfasstheit des Staates Israel.
Diese Gewissheit hat eine inzwischen lange Geschichte, die in die Zeiten des Kalten Kriegs zurückreicht (und nicht zuletzt die Beziehung zwischen der Bundesrepublik und der DDR betrifft).31 Mit den Erfolgen des politischen Islam seit der Islamischen Revolution im Iran 1979 und den Anschlägen des 11. September 2001 erschien unbezweifelbar, dass Israel die Rolle als geopolitischer Stützpunkt und Bollwerk eines westlichen Verständnisses von Demokratie in einer Umgebung von Autokratien und Theokratien mit schwach entwickelten demokratischen Strukturen innehat. Diese These vom Ausnahmestatus Israels wirkt plausibel, weil die Staaten, von denen Israel umringt ist, tatsächlich größere bis massive Demokratiedefizite aufweisen.32 In den postkolonialen Strukturen einer Staatlichkeit, die von Institutionen geprägt sind, die es anderen als autoritären Formen des Regierens schwer machen, waren und sind demokratische Verhältnisse nur in Ausnahmefällen gewährleistet. In Democracy Without Democrats?, einem Sammelband über die politischen Reformen im Mittleren Osten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, schrieb der libanesische Soziologe und Politiker Ghassan Salamé 1995: einerseits sei der Staat in der Region die einzige tragfähige Instanz von Demokratisierung, andererseits sei dieser Staat einer, „der eher ausgrenzt als innovativ ist, ein Staat der Legitimation statt der Vision.“33
Unbestreitbar erscheint der Befund von den Demokratiedefiziten in den Gesellschaften des Mittleren Ostens vor allem, wenn man ihn am normativen Modell der „liberalen Demokratie“ misst, das „der Westen“ seit dem Ende des Kalten Krieges als Maßstab seiner „Demokratiemessungen“ (democracy indices) anlegt.34 Die Unterdrückung und Zerschlagung der Bewegungen des sogenannten Arabischen Frühlings haben Demokratisierungsbestrebungen in der Region vermeintlich hoffnungslos zurückgeworfen. Aufbruchsstimmung ist allerorten Resignation und Zynismus gewichen.
Seit Jahrzehnten kreisen westliche Analysten um die Idee eines arabisch-islamischen Exzeptionalismus, einer „kulturellen Dialektik“ von Demokratie und Islam.35 Demokratie und Mittlerer Osten, so der Tenor, schlössen sich nachgerade aus. Aber wie stimmig ist die Behauptung, die Gesellschaften des Mittleren Ostens und des Maghreb seien gegen Demokratisierung prinzipiell „immun“?36 Wie „inkompatibel“ sind Islam und Demokratie tatsächlich?37 Wie demokratieverhindernd ist der politische Islam?38 Wie (un)wahrscheinlich eine „muslimische Demokratie“?39
So unübersehbar die Probleme und Aporien sind, so wenig kann von einer inhärenten Unvereinbarkeit arabischer und demokratischer Kultur die Rede sein.
Einen besonderen Fall stellt in diesem Zusammenhang die Geschichte der Demokratisierungsbewegungen der palästinensischen Bevölkerung in Israel und in den besetzten Gebieten im Westjordanland, in Ost-Jerusalem, auf den Golan-Höhen und in Gaza dar. „Demokratisierung“ ist hier seit Jahrzehnten ein von unzähligen Widrigkeiten und Widerständen gesäumtes Projekt. Zwischen den Lebenswirklichkeiten in Flüchtlingslagern und den Dörfern und Städten der besetzten Gebiete, der Militanz antikolonialistisch-antizionistischer Befreiungspolitik, den Machtkämpfen säkularer Akteure wie der PLO und Bewegungen des Politischen Islam wie Hamas, der Präsenz von Organisationen der internationalen Gebergemeinschaft, und vor allem der Realität des israelischen Besatzungsregimes und des Siedlungsbaus hatten und haben es demokratische Kräfte schwer. Dabei galt Palästina seit den 1990er Jahren und im Zuge des Oslo-Prozesses im Westen lange als eine Art Demokratielabor (während die wichtigeren Schritte der Demokratisierung wohl in den 1980er und frühen 1990er Jahren gegangen wurden – vor, während und nach der ersten Intifada). Zivilgesellschaftliche Akteure unterschiedlichen Typs wurden mit erheblichen finanziellen Mitteln gefördert, um ein Programm der „transition“ zu liberal-demokratischen Verhältnissen umzusetzen. Die sich daraus entwickelnden para-politischen, lokalen wie transnationalen Strukturen führten einerseits zu geografischen, kulturellen und ökonomischen Ungleichheiten in den besetzten Territorien, wie andererseits zu einer entpolitisierenden und entdemokratisierenden NGOisierung der Zivilgesellschaft, mitsamt neuen Formen der Korruption und quasi-kolonialen Kontrolle.40
Staatlichkeit ist für Palästinenser*innen, vor allem in den besetzten Gebieten, weniger Fluchtpunkt als eine ewige Wiederholung „falscher Schwellen“ (false thresholds).41 Alles, was In dieser Gemengelage aus externer und interner Governance – der auf Dauer gestellten „indirect rule“ in der Westbank42 und der Hamas-Alleinherrschaft in Gaza43 – über Formen einer „partial democracy“44 und eine „semi (oder annähernd) demokratische“ Einstellung unter Palästinenser*innen45 hinausgeht, ist nicht nur überraschend, sondern zudem das Resultat sehr spezifischer politischer und zivilgesellschaftlicher Praktiken.46 Gerade staatenlose Gemeinschaften entwickeln Konzepte von Selbstbestimmung abseits der Routen einer auf der Prämisse von Staatlichkeit basierenden „Demokratisierung“. So verweisen die amerikanische Völkerrechtlerin Aslı Ü. Bâli und der palästinensisch-amerikanische Rechtswissenschaftler Omar Dajani auf die „extreme postkoloniale Prekarität“ etwa von Kurd*innen und Palästinenser*innen, denen der Zugang zu den Schalthebeln staatlicher Macht verwehrt sei. Eben diese Prekarität bedinge ein grundlegend anderes Nachdenken darüber,
wie politische Autorität hergestellt, organisiert und institutionalisiert werden sollte. Diese Gemeinschaften experimentieren mit Ideen der dezentralen Regierungsführung und des Konföderalismus, die die Darstellung der Region als autoritär erschweren. Darüber hinaus stellen ihre Experimente innovative, basisdemokratische Praktiken dar, die über ihren unmittelbaren geografischen Kontext hinaus von Bedeutung sind.47
Wie gefährdet und minderheitlich solche Demokratisierungsbemühungen jenseits von Staatlichkeit auch sein mögen, erinnern sie doch an das fundamental Unvollendete der Demokratie, die radikale Offenheit, manche sagen: „Leere“, des Begriffs, einem Signifikanten auf der ständigen Suche nach einem funktionierenden Signifikat. Vor über zwanzig Jahren merkte der Kulturtheoretiker Stuart Hall unter dem Eindruck des Triumphalismus der westlich-amerikanischen Vorstellung von „liberaler Demokratie“ an, dass die Rolle der Demokratie darin besteht, zwischen Partikularität und Universalismus zu vermitteln; ansonsten sei der Begriff ohne spezifischen, fixierbaren Inhalt.48
V.
Nicht nur von außen, auch innerhalb Israels kommt die Kritik an den eigenen politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Zustand einer Demokratie nicht zur Ruhe. Dass diese Demokratie seit der Gründung des Staates ohne verschriftlichte Verfassung geblieben ist, ist dabei nur eines von vielen der verhandelten Probleme.49 Seit 1967 herrscht der gravierende Widerspruch, dass ein und dieselbe Regierung in dem Gebiet des Staates Israel und in den von Israel besetzten Gebieten in Ost-Jerusalem, im Westjordanland, auf den Golan-Höhen und in Gaza regiert. Dieser Widerspruch verbindet sich mit den von der Kulturwissenschaftlerin Ariella Aïsha Azoulay und dem Philosophen Adi Ophir als „zweifache Trennung“ (dual division) bezeichneten Unterscheidungen zwischen „Bürger*innen“ und „Nicht-Bürger*innen“ einerseits und „Jüd*innen“ und „Nichtjüd*innen“ andererseits.50 Für die nicht-jüdische Bevölkerung bedeute diese „zweifache Trennung“, so Azoulay und Ophir, dass die Unterscheidung zwischen den beiden Ebenen innerhalb der demokratischen Institutionen des „eigentlichen Israel“ (Israel proper) die Aufrechterhaltung der Ungleichheit zwischen den nationalen Gruppen auf der einen Ebene und der relativen Gleichheit auf der anderen Ebene ermögliche:
Palästinensische Staatsbürger*innen können schikaniert und verfolgt, vernachlässigt und diskriminiert werden, weil sie Nichtjüd*innen sind, aber sie dürfen vom Staat nicht rechtlich aufgegeben oder beseitigt werden. Nicht-Staatsbürger*innen Palästinas hingegen können rechtmäßig entführt, ausgewiesen, beseitigt oder vollständig aufgegeben werden. Dies sind wesentliche Unterschiede, die alle Dimensionen des Regimes und seines Herrschaftsapparats sowie alle Lebensbereiche der regierten Untertanen durchdringen.51
Was folgt aus dieser umfänglichen Durchdringung des Prinzips der „doppelten Trennung“ für den Status der Demokratie? Der israelische Soziologe Natan Sznaider gelangte diesbezüglich 2023 zu einem eindeutigen Urteil:
Die Demokratie in Israel, auch wenn sie immer noch als die einzige Demokratie im Nahen Osten bezeichnet wird, ist eine ethnische Demokratie. Sie entspricht nicht dem moralischen Ideal der universellen Demokratie. Der fast schon permanent existierende Ausnahmezustand und die nicht vorhandene Trennung zwischen Staat, Nation und Religion, ergeben sich als tagtägliche Herausforderungen aus dem ethnischen Charakter dieses Staates.52
Alles andere als das Zugehen der jüdischen Mehrheitsgesellschaft auf die palästinensische Bevölkerung und deren Behandlung als gleichberechtigte Staatsbürger wäre die „apokalyptische Weltlosigkeit“.53 Wie unlösbar von den faktisch ungleich verteilten politischen Teilhabemöglichkeiten und der Staatenlosigkeit der Bevölkerung der besetzten Territorien die Auseinandersetzungen um die demokratischen Verhältnisse in Israel sind, zeigte sich etwa in den Debatten um das 2018 von der Knesset verabschiedete sogenannte Nationalstaatsgesetz. Dieses schreibt den jüdischen Charakter des Staates – und damit den Vorrang des „Jüdischen“ vor dem „Demokratischen“ – mit Berufung auf unterschiedliche Schichten historischer Legitimität erneut fest (nachdem der Oberste Gerichtshof das ethnisch-religiöse Profil des Staates bereits 1964 als verfassungsmäßiges Merkmal festgelegt hatte). Auch vor den Augen der internationalen Gemeinschaft stellte diese konstitutionelle Entwicklung die Demokratieansprüche Israels auf eine erneute Belastungsprobe.54
Eine weitere Stufe des innerisraelischen Streits um das Verständnis von Demokratie waren die im Januar 2023 beginnenden Proteste gegen die Justizreform der Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu. Die Demonstrationen richteten sich gegen die wahrgenommene Bedrohung der Unabhängigkeit der Justiz und insbesondere des Obersten Gerichtshofs. Bezeichnenderweise handelte es sich hier um einen Angriff der Politik auf eine Institution, die von allen israelischen Institutionen das höchste Ansehen unter den Palästinenser*innen in Israel und in den besetzten Territorien genießt.55
Die israelische Verfassungsrechtlerin Suzie Navot spricht vom „starken demokratischen ‚Geist‘“, dem eine „fragile demokratische Struktur“ gegenübersteht, in der die jeweilige Regierung die Knesset fast nach Belieben dominiert.56 Wie die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara sieht Navot „das Ende Israels als konstitutionelle liberale Demokratie“ nahen, die politische Kultur stehe den Grundrechten und dem Pluralismus zunehmend feindlich gegenüber.57
Nur teilweise vergleichbar mit anderen vermeintlich „liberalen Demokratien“, die ein „democratic backsliding“ erleben,58 liegen die Ursachen und Voraussetzungen für die Krise der Demokratie in Israel nicht zuletzt in der jahrzehntelangen Militarisierung der Gesellschaft und der Expansion des Siedlungsbaus. Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 äußert sich diese Krise in nochmals radikalisierter, massiver militärischer und paramilitärischer Gewalt in Gaza und den besetzten Gebieten, die wiederum Gegengewalt provoziert. Israel und seine Verbündeten begründen diesen verheerenden Krieg mit dem „Recht auf Selbstverteidigung“.59 Ohne damit die Gewalt von Hamas und anderen militanten Gruppierungen zu rechtfertigen oder zu verharmlosen, scheint es aber ebenso gerechtfertigt, hier von der Fortsetzung einer jahrzehntelangen Politik der Obstruktion von Staatlichkeit zu sprechen. Sie zerstört die Bedingungen der Möglichkeit für eben jene palästinensische Politik der „Demokratisierung“, die die westliche Staatengemeinschaft und der ihr angegliederte NGO-Komplex zur Bedingung einer politischen Ordnung erklärt, die den Vergleich mit der „einzigen Demokratie im Mittleren Osten“ bestehen würde. Auf Seiten Israels wiederum ist nach einer endlos anmutenden Zeit von Likud-Regierungen (die mit dem sechsten Kabinett Netanjahu die bisher am weitesten rechtsstehende und religiöseste Regierung aller bisherigen 37 Regierungen bildet) die Ethnokratie nun auch grundgesetzlich verankert. Damit tragen das Prinzip und die Rhetorik der „Selbstverteidigung“ entscheidend zur Polarisierung und Brutalisierung der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung bei. So verstanden, wird die „wehrhafte Demokratie“ zur identitären Waffe gegen die unter israelischer Besatzung lebenden, staatenlosen palästinensischen „non-citizens“.
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Fußnoten