Antisemitismus
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Was ist Antisemitismus?
Der Begriff Antisemitismus beschreibt Feindseligkeit, Diskriminierung, Vorurteile und Gewalt gegenüber Jüd*innen als solche. Antisemitische Rhetorik und Handlungen machen Jüd*innen kollektiv für gesellschaftliche Missstände oder vermeintliche Übel in der Welt verantwortlich, was zu Ausgrenzung, Verfolgung und Gewalt führt. Dennoch kann es schwierig sein, eine formale Definition von Antisemitismus festzulegen,1 da sich antisemitische Vorstellungen und Bilder fortlaufend ändern und in lokalen und nationalen Kontexten unterschiedlich funktionieren.
Antisemitismus greift auf Elemente aus der christlichen Theologie zurück und ist weit über die westliche Welt hinaus verbreitet. Er äußert sich heutzutage vor allem in Form von verbaler und körperlicher Gewalt, Klischees, Holocaustleugnungen und durch Verschwörungstheorien über eine perfide jüdische Einflussnahme auf wirtschaftliche, soziale, kulturelle oder politische Verhältnisse. Solche paranoiden Fantasien von jüdischer Macht sind überaus gängig im Antisemitismus, weshalb die reale Existenz eines jüdischen Nationalstaats besondere Herausforderungen an die eindeutige Definition und Erkennung von Antisemitismus stellt. Die Kritik am Staat Israel kann durchaus zur Bühne für antisemitische Rhetorik oder Handlungen werden, wenn sie den Einfluss Israels in der Weltpolitik übertrieben darstellt oder Jüd*innen kollektiv für die Politik des israelischen Staates verantwortlich macht.
Antisemitismus tritt nicht isoliert auf, sondern in Verbindung mit anderen Formen von Diskriminierung, Doppelmoral und Gewalt. Wie andere Formen des Rassismus entmenschlicht Antisemitismus jüdische Menschen, hetzt andere dazu auf, sie zu schikanieren und auszubeuten, und bedient sich populärer Ressentiments zum Erhalt ungerechter Verhältnisse. Antisemitische Rhetorik stellt Jüd*innen oft als zwielichtige, übermächtige Strippenzieher des Weltgeschehens dar oder als korrupte Eindringlinge mit untreuen Absichten, die soziale Stabilität zu untergraben; jüdischen Menschen wird demzufolge oft pauschal die Schuld für Gefährdungen der nationalen Gesundheit und Sicherheit oder für soziale Ungerechtigkeiten im Kapitalismus angeheftet. Antisemitismus kann folglich dazu beitragen, legitime Kritik an bestehenden politischen und wirtschaftlichen Systemen zu entkräften und diejenigen zu entlasten, die für andauernde Krisen, Ungleichheit und Leid verantwortlich sind.
Strukturell wie individuell ausgeübter Antisemitismus kann auch mit einer philosemitischen Einstellung einhergehen, die für sich beansprucht, jüdische Menschen eigentlich schützen und bewundern zu wollen. Ähnlich wie beim Antisemitismus können philosemitisch motivierte Verallgemeinerungen und Stereotype dazu verleiten, jüdische Menschen innerhalb einer Gesellschaft zu isolieren und auf eine Art hervorzuheben, die Annahmen über jüdische Andersartigkeit reproduziert und sie von anderen marginalisierten Gruppen abgrenzt. Insofern können philosemitische Sprache und Handlungen – insbesondere in Form von Bewunderung oder Unterstützung für den Staat Israel – auch eine zugrunde liegende Feindseligkeit gegenüber Jüd*innen kaschieren, antisemitische Fantasien schüren und zur Dämonisierung anderer marginalisierter Gruppen beitragen.
Antisemitismus richtet sich in erster Linie gegen Jüd*innen und jüdisch gelesene Menschen. Allerdings sind nicht alle gleichermaßen angreifbar für antisemitische Gewalt. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sind jene einem größeren Angriffsrisiko ausgesetzt, die in der Öffentlichkeit als Jüd*innen deutlich erkennbar und dabei besonders sichtbar sind (zum Beispiel durch traditionelle Kleidung). Gleichzeitig ist antisemitisches Denken spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert von der Angst geprägt, dass sich jüdisches Leben gesellschaftlich immer weniger sichtbar zeigt und/oder auf trügerische Weise assimiliert.
Wer ist von Antisemitismus betroffen?
Antisemitismus betrifft nicht nur Jüd*innen. Antisemitische Verschwörungstheorien, wie beispielsweise die „Great Replacement“-Theorie,2 imaginieren oft eine diabolische Allianz aus jüdischen, schwarzen, LGBTQ+, muslimischen, migrantischen und anderen marginalisierten Gruppierungen als existenzielle Bedrohung für weiße, christliche Mehrheiten. Parallel dazu bieten antisemitische Verschwörungstheorien benachteiligten Gesellschaftsgruppen ein willkommenes Ventil, um ihrem Ärger und ihrer Frustration gegenüber den vermeintlich Mächtigen Luft zu machen. Wenn sich Proteste gegen vorherrschende Ungerechtigkeiten mit antisemitischen Verschwörungstheorien vermischen, sind häufig die übermäßige Überwachung, Repression und Kriminalisierung ohnehin marginalisierter Gemeinschaften die Folge. Auf Basis einer solchen reaktionären Instrumentalisierung von Jüd*innen entsteht ein rassifizierter Kreislauf aus antisemitischer Hetze und philosemitischer Bestrafung.
Instrumentalisierte Vorwürfe
Antisemitismusvorwürfe können sich die Besorgnis gegenüber anti-jüdischen Vorurteilen zum Zweck der Stärkung reaktionärer und repressiver Politiken aneignen und missbrauchen. Derart arglistige Anschuldigungen isolieren Jüd*innen letztlich von anderen marginalisierten Gruppen und verzerren progressive politische Bewegungen und Akteur*innen als intolerante und zu verachtende Bedrohungen für Freiheit und Demokratie. Autoritäre Regime machen sich das häufig zunutze, um repressive Maßnahmen und Agenden durchzusetzen und sich selbst von Antisemitismusvorwürfen aus der Vergangenheit oder Gegenwart freizusprechen. Unter dem Deckmantel des Philosemitismus geben sie vor, jüdisches Leben zu schützen, während sie die Menschenrechte und Sicherheit von Jüd*innen und jene anderer marginalisierter Gruppen auf gefährliche Weise gegeneinander ausspielen.
Beispiele für die Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen für politische Zwecke sind:
- Die Gleichsetzung der Kritik gegenüber dem Staat Israel mit Antisemitismus, beispielsweise durch die Annahme bzw. Unterstützung der Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)3 oder indem Rechenschaftsmechanismen zur Einhaltung der Menschenrechte als antisemitisch diskrediert werden.
- Anti-Boykott-Gesetzgebungen,4 die ursprünglich zur Strafverfolgung gegen den gewaltfreien Protest für Menschenrechte der Palästinenser*innen eingesetzt wurden und deren Anwendung sich inzwischen auf gewaltfreie Proteste in anderen Bereichen ausweitet.
- Die Normalisierung anti-migrantischer,5 anti-muslimischer und sonstiger Diskriminierungen unter dem Vorwand, jüdische Gemeinschaften zu schützen.6
Gegenstrategien
Der Kampf gegen Antisemitismus ist Teil des größeren Vorhabens, für eine gerechte Demokratie zu sorgen. Folgende Strategien können dabei hilfreich sein:
- Unterbinden Sie falsche Schuldzuweisungen, Verallgemeinerungen, Ausgrenzungen und Angriffe auf jüdische Menschen als solche, unabhängig von deren politischen Einstellungen.
- Stellen Sie Verbindungen zu lokalen jüdischen Gruppen her, um gemeinsame Vorstellungen von Gerechtigkeit, Demokratie, religiöser Vielfalt und Menschenrechten zu entwickeln.
- Üben Sie kompromisslose Kritik gegenüber Formen von white supremacy und christlicher Vorherrschaft. Lassen Sie keine hierarchischen Konkurrenzverhältnisse zwischen unterschiedlichen Leiderfahrungen entstehen.
- Begegnen Sie falschen Antisemitismusvorwürfen ohne jedoch die Existenz von Antisemitismus zu bestreiten.
Aus dem Englischen übersetzt und um Literaturhinweise ergänzt.
Die Originalfassung der Diaspora Alliance finden Sie hier >>
Fußnoten