Meinungsfreiheit

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Auf der Strasse und im Gerichtssaal: Das Verbot einer Parole

Der Fall Israel/Palästina ist nicht nur eine regionale, politische und militärische Auseinandersetzung zwischen mindestens zwei ungleichen Parteien. Er ist auch ein globaler, diskursiver Konflikt zwischen vielen unterschiedlichen Meinungen. Meinungen sowohl über die historischen Ursachen der Situation, als auch über die zukünftige politische Gestaltung der Region. Dabei geht es auch darum, welche Begriffe im Diskurs zu verwenden oder zu vermeiden sind, so wie beispielsweise die Formulierung “from the river to the sea”.

Die Verwendung dieser vagen Bezeichnung der Region zwischen Jordan und Mittelmeer, die schon seit den 1960er Jahren immer wieder auftaucht – als erste Zeile des zweizeiligen palästinensischen Slogans “from the river to the sea, Palestine will be free” – wurde am 2. November 2023 durch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) verboten. Dies im Rahmen des Betätigungsverbots für Hamas und das internationale Netzwerk Samidoun – Palestinian Solidarity Network.1 Das Verbot kam in den Wochen unmittelbar nach dem Anschlag vom 7. Oktober 2023 zustande, bei dem mehr als 1‘100 Menschen getötet und 240 Menschen von Hamas entführt wurden. Das Verbot der Parole “from the river to the sea” – in allen Sprachen und in allen Varianten – wurde damit begründet, sie sei ein Kennzeichen der als terroristisch eingestuften Hamas, einer Organisation, die das Existenzrecht Israels nicht anerkennt. Die Parole sei deshalb als antisemitisch und damit auch als volksverhetzend und folglich, nach §130 des Strafgesetzbuches, als strafbar zu betrachten. Seit der Bekanntmachung des Verbots am 2. November 2023 haben jedoch mehrere Organisator*innen von israelkritischen Versammlungen bei mehreren Verwaltungsgerichten (und Oberverwaltungsgerichten) gegen entsprechende Versammlungsauflagen geklagt und argumentiert, die Parole sei an sich nicht zwingend als antisemitisch zu deuten, weshalb sie auch nicht unbedingt volksverhetzend und damit nicht strafbar sei. Denn es besteht auch – wie ich nachfolgend zeige – eine naheliegende straffreie Deutung der Parole. Diese Klagen wurden von Verwaltungsgerichten und Oberverwaltungsgerichten unterschiedlich beurteilt. So argumentierte das Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen in seinem Beschluss vom 29. April 2024:

“Meinungsäußerungen finden nach Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken in den allgemeinen Gesetzen. Eine versammlungsrechtliche Sanktionierung kommt daher nur in Betracht, wenn eine im Rahmen einer Versammlung getätigte Meinungsäußerung gegen ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG verstößt (…). Auf die inhaltliche Bewertung der Versammlungsinhalte durch die Behörden, Gerichte oder Allgemeinbevölkerung kommt es jenseits dieser rechtlichen Prüfung nicht an. Wenn ein Versammlungsinhalt von der Meinungsfreiheit gedeckt ist und insbesondere nicht durch ein Strafgesetz verboten ist, kommt es nach dieser verfassungsrechtlichen Konzeption schließlich auch nicht darauf an, ob diese Inhalte bei Dritten erhebliche Belastungen auslösen. Erst wenn eine Meinungsäußerung als solche die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlässt und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlägt, ist ein Eingriff erlaubt (…).” Weiter heisst es: “Maßgeblich für die Beurteilung einer Äußerung bleibt diese selbst und ihr unmittelbarer Kontext, nicht die innere Haltung oder die Ideologie, die möglicherweise den Hintergrund einer Äußerung bilden. Bei mehrdeutigen Äußerungen haben Behörden und Gerichte sanktionsrechtlich irrelevante Auslegungsvarianten mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen auszuschließen, bevor sie ihrer Entscheidung eine zur Anwendung sanktionierender Normen führende Deutung zugrunde legen. Bleibt die Äußerung mehrdeutig, weil sich nicht strafbare Deutungsmöglichkeiten nicht als fernliegend ausschließen lassen, ist diejenige Variante zugrunde zu legen, die noch von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt ist (…)”.2

Nun kann der Slogan nachvollziehbar verstanden werden als Ausdruck der nicht strafbaren Meinung, dass es zwischen Mittelmeer und Jordan ein Land geben soll, das ‘Palästina’ genannt werden kann oder soll. Es ist naheliegend davon auszugehen, dass der Slogan auch den Wunsch ausdrückt, dass jüdische und arabische Menschen in diesem einen Staat friedvoll gleichberechtigt zusammenleben sollen und können, so wie Vertreter*innen der sogenannten ‘One-State Solution’, mit Edward Said, zu Recht argumentieren.3 Die meisten Diplomat*innen in der westlichen Welt und die Regierungen für die sie arbeiten, haben sich jedoch seit vielen Jahren für die sogenannte ‘Two-States Solution’ ausgesprochen, die neben dem jüdischen Staat Israel einen unabhängigen, demokratischen Staat Palästina vorsieht. Damit gehen sie geschickt einem Problem aus dem Weg, nur um neuen Problemen zu begegnen. Das friedvolle, gleichberechtigte Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religion, Herkunft, Sprache innerhalb eines Staates verlangt tatsächlich, dass dieser Staat sich selbst nicht religiös definiert. Deswegen soll der Staat zwischen Mitttelmeer und Jordan kein jüdischer Staat sein, aber sehr wohl ein Staat, in dem jüdische Menschen in Frieden mit anderen leben können. Als ‘frei’ ist ein Land ja nur dann zu bezeichnen, wenn seine Einwohner*innen, ungeachtet Religion, Herkunft, Sprache, die selben Rechten haben und damit die rechtlichen Voraussetzungen für ein friedvolles Zusammenleben gegeben sind. Der Slogan lässt sich sehr wohl interpretieren als Ausdruck eines Verlangens nach dieser Freiheit eines zukünftigen Landes zwischen Jordan und Mittelmeer und also nach einer Freiheit mit anderen, nicht ohne die anderen. Wenn dieses Land ‘Palästina’ genannt werden soll, kann dies auch als Verweis auf den Namen des ehemaligen britischen Mandatsgebietes, wohin sich in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts viele jüdische Menschen in Sicherheit bringen wollten. Auch für Zionist*innen war ‘Palästina’ der Name dieses Landes der Hoffnung. Die Idee, dass die Region zwischen Mittelmeer und Jordan politisch als ein Land gestaltet werden soll, für das man dann wohl einen Namen brauchen würde, ist übrigens kein palästinensisches Prerogativ. Die Formulierung “from the river to the sea” war ursprünglich Teil einer Darstellung eines zionistischen Programmes, die sich die Palästinenser*innen in den 1960er Jahren angeeignet haben. Übrigens hat auch Likud, die Partei Benjamin Netanyahus, bei den israelischen Parlamentswahlen in 1977 eine Variante dieses Slogans benutzt, die für das ganze Gebiet “from the sea to the Jordan” israelische Souveränität beanspruchte – eine Position, die als ein Abschied von den viel größeren Gebietsansprüchen eines ‘Großisraels’ (Eretz Israel) verstanden werden wollte. Der Slogan ist damit nicht nur ein ‘palästinensischer’ – vielmehr hat er eine Geschichte von zionistischen, jüdischen und israelischen Verwendungen, mit der die palästinensische Variante sich politisch auseinandersetzt. Genauso wie, umgekehrt, die Likud-Variante als eine Reaktion auf die palästinensische Variante betrachtet werden kann. Alle diese Gruppen haben das mit dem Slogan schlicht poetisch angedeutete Territorium, wenn nicht ganz, so doch zumindest teilweise politisch für sich beansprucht. Dabei bleiben in allen Varianten des Slogans territoriale Fragen offen: so werden in der poetischen Umschreibung des Territoriums die gewünschten Staatsgrenzen mit dem Libanon, Syrien und Ägypten nicht genau definiert. Wenn jedoch die Verwendung eines Slogans verboten wird, wenn eine Gruppe sie benutzt, aber keine Verbote gelten, wenn eine andere Gruppe sie für sich benutzt, dann sollte dies, so würde ich meinen, als Verstoss gegen das Gleichheitsprinzip gewertet werden.

Im Grundgesetz: GG Art. 5.1, 5.2, 5.3

Die Meinungsfreiheit gilt in liberal-demokratischen Staaten als ein Grundrecht, das unter andere in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention über “die Freiheit der Meinungsäusserung” festgelegt ist. Der zweite Absatz dieses Artikels nennt jedoch gleich eine Liste von Beschränkungen.4

“Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.”

Damit ist deutlich, dass die Meinungsfreiheit keineswegs so absolut ist, wie einige europäische Bürger*innen sie – manchmal mit einem Verweis auf die liberale Formulierung des First Amendments des Grundgesetzes der Vereinigten Staaten – gerne verstehen würden. Doch nicht nur die Europäische Menschenrechtskonvention, sondern auch das deutsche Grundgesetz legt die Schranken der Meinungsfreiheit fest. Artikel 5.1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland formuliert die “Freiheit der Meinungsäusserung” so:

“(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.” Die Artikel 5.2 und 5.3 ergänzen: “(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung”.

Im Parlament: Die Resolution ‘Der BDS-Bewegung entschlossen entgegen treten – Antisemitismus bekämpfen’

Im Konflikt Israel/Palästina gibt es bekanntlich Befürworter*innen einer BDS-Strategie gegen Israel: Boycott, Divestment, Sanction. In internationalen politischen Auseinandersetzungen zwischen Staaten kommt es gelegentlich zu Boykotten, Divestitionen und Sanktionen von Seiten einiger Staaten gegenüber anderen Staaten. Im Konflikt Russland/Ukraine befürworten die meisten westlichen Politiker*innen eine BDS-Strategie gegenüber Russland. Diese Strategie wird durchaus nicht als ein Fall von Russophobie betrachtet. Dagegen wird das Befürworten einer BDS-Strategie gegenüber Israel in Deutschland von höchster Stelle pauschal und an sich als ein Fall von Antisemitismus gewertet. Damit gilt es nicht als Verletzung der Meinungsfreiheit, wenn diese Kreise der BDS-Strategie „entschlossen entgegen treten“. Am 15. Mai 2019, und damit, zufällig oder nicht, am Tag der Nakba, wurde im deutschen Bundestag mit grosser Mehrheit eine gemeinsame Resolution der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, mit dem Titel ‘Der BDS-Bewegung entschlossen entgegen treten – Antisemitismus bekämpfen’ gebilligt. Darin heisst es:

“Der Deutsche Bundestag beschließt, (1) erneut jeder Form des Antisemitismus schon im Entstehen in aller Konsequenz entschlossen entgegenzutreten und die BDS-Kampagne und den Aufruf zum Boykott von israelischen Waren oder Unternehmen sowie von israelischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Künstlerinnen und Künstlern oder Sportlerinnen und Sportlern zu verurteilen; (2) Räumlichkeiten und Einrichtungen, die unter der Bundestagsverwaltung stehen, keinen Organisationen, die sich antisemitisch äußern oder das Existenzrecht Israels in Frage stellen, zur Verfügung zu stellen. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, keine Veranstaltungen der BDS-Bewegung oder von Gruppierungen, die deren Ziele aktiv verfolgen, zu unterstützen; (3) seine Unterstützung für die Bundesregierung und den Beauftragten für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus sowohl in der Prävention als auch in der entschiedenen Bekämpfung von Antisemitismus und jeglichem Extremismus unvermindert fortzusetzen; (5) keine Organisationen finanziell zu fördern, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen; (6) keine Projekte finanziell zu fördern, die zum Boykott Israels aufrufen oder die die BDS-Bewegung aktiv unterstützen; (7) Länder, Städte und Gemeinden und alle öffentlichen Akteurinnen und Akteure dazu aufzurufen, sich dieser Haltung anzuschließen”.5

Die Auseinandersetzung zwischen den politischen Vertreter*innen des Staates Israels und Gegner*innen bestimmter Aspekte von deren Politik ist in mehreren Hinsichten eine asymmetrische. Der Staat Israel verfügt über massive militärische Macht, die er in Konflikten mit Pro-Palästinenser*innen einsetzt – nach eigener Darstellung in der Regel als Reaktion auf ein Akt des Terrorismus. Solche militärische Reaktionen, ziehen dann ihrerseits oft wieder weitere, aussichtslose Akte der Verzweiflung nach sich. Im Kontext der langjährigen, gewalttätigen israelischen-palästinensischen Konflikte, könnte man die BDS-Bewegung auch als eine Suche nach einer starken Form des gewaltlosen Widerstands verstehen. Omar Barghouti, der Gründer der Bewegung, betont immer wieder, dass BDS sich in einer Tradition der “non-violent resistance” sieht. Statt Bomben produzieren die BDS-Befürworter*innen einen Diskurs. Es ist nicht so abwegig, die BDS-Bewegung als eine Friedensinitiave zu betrachten, auch wenn man, so wie ich, ihre Triple-Strategie (“Boycott, Divestment and Sanctions”) für falsch hält.

Die Beurteilung der BDS-Bewegung als antisemitisch, disqualifiziert sie als Friedensinitiative. Die oben erwähnte sogenannte BDS-Resolution des Bundestags vom 15. Mai 2019 scheint entsprechend vor allem ein Ziel gehabt zu haben: die moralische und politische Disqualifizierung der BDS-Bewegung als antisemitisch. Zwar heisst es immer wieder: Kritik an der israelischen Politik ist selbstverständlich erlaubt, nur eben nicht Antisemitismus. Ist die BDS-Bewegung jedoch als solche tatsächlich antisemitisch? Nicht nur betont Omar Barghouti immer wieder, dass BDS nicht antisemitisch ist. Sie kann es für ihn auch einfach nicht sein. Antisemitismus wäre ein völliger Widerspruch. Zweifellos ist es möglich, dass Aussagen einzelner Unterstützer*innen der BDS-Bewegung als antisemitisch eingestuft werden müssen. Nur kann die Bewegung als solche nicht verantwortlich gemacht werden für alle möglichen Aussagen einzelner Unterstützer*innen. Wäre dem so, wäre es beispielsweise auch sehr einfach, alle deutschen demokratischen Parteien zu diskreditieren, denn offizielle Parteimitglieder machen schliesslich auch immer wieder mal Aussagen, die von der Parteilinie abweichen.

[i] Siehe: Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Drucksache 19/10191, 15.05.2019.

Im Theater und im Museum: Die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit

Durch die massive Verurteilung der BDS-Bewegung im deutschen Parlament sahen sich viele deutsche Kunst- und Wissenschaftsinstitutionen, die mit (internationalen) Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Autor*innen zusammenarbeiten, welche die BDS-Bewegung unterstützen, zu einer koordinierten Stellungnahme gezwungen. Daraus entstand die ‘Initiative GG 5.3 Weltoffenheit’ – getragen von etwa zwanzig prominenten Leiter*innen deutscher Kunst- und Wissenschaftsinstitutionen, die am 10. Dezember 2020 im Deutschen Theater mit einer Kritik an der sogenannten BDS-Resolution an die Öffentlichkeit traten. Ihr Anliegen habe ich damals – zusammen mit mehr als 1‘500 anderen Kulturproduzent*innen – mit einer Unterschrift für die parallel dazu aufgegleiste Petition ‘Wir können nur ändern, was wir konfrontieren’ unterstützt.6 Die Forderung der Petition soll hier in extenso zitiert werden:

Ein BDS-Befürworter gewinnt den Geschwister-Scholl-Preis 2023 (Ein Tagebucheintrag)

28.11.2023. Als ich am Donnerstagabend den 12. Oktober 2023, fünf Tage nach dem Massaker der Hamas, in meiner Berliner Küche im Deutschlandfunk die Nachricht hörte, dass David Van Reybrouck den Geschwister-Scholl-Preises 2023 erhält, der an diesem Dienstagabend, dem 28. November 2023, in der Großen Aula der Ludwig-Maxilians-Universität in München verliehen wurde, war ich erstmal froh für meinen großartigen belgischen Kollegen und habe ihm direkt in einer persönlichen Nachricht auf Facebook gratuliert. Wir kennen uns seit vielen Jahren, sind beide politisch aktiv, obwohl wir nicht immer gleicher Meinung sind.

Wogegen? Manche deutsche Kulturjournalist*innen gestalten in letzter Zeit ihre Arbeit vor allem als gnadenlose Jagd auf BDS-Unterstützer*innen im Kulturbereich – mit der Folge, dass Schrifsteller*innen und Künstler*innen ausgeladen werden müssen, Preise nicht verliehen werden können und ganze Findungskommissionen sich auflösen, weil sich herausstellt, dass ein Mitglied angeblich der BDS-Bewegung mal etwas zu nahe stand. Trotz dieser Tatsache hat noch keiner der BDS-Jäger*innen des deutschen Feuilletons bis zum Abend der Preisverleihung am 28. November 2023 darüber geschrieben, dass David Van Reybrouck ein BDS-Befürworter ist. So berichtete die niederländischsprachige belgische Tageszeitung De Morgen am 14. Januar 2009 von einem Boykottaufruf gegen Israel und veröffentlichte eine Liste der Erstunterzeichner*innen, die neben weiteren hervorragenden belgischen Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Akademiker*innen – darunter Anne Teresa De Keersmaeker, Alain Platel, Stefan Hertmans – auch David Van Reybrouck umfasste.7

Der Geschwister-Scholl-Preis 2023 wurde also soeben an ein BDS-Befürworter verliehen. Das finde ich gut so, auch wenn ich selber kein BDS-Befürworter bin. Bedenklich finde ich es jedoch, dass man in Deutschland seit der Bundestagsresolution vom 15. Mai 2019 als Antisemit*in stigmatisiert werden kann, wenn man der Meinung ist, BDS sei eine legitime Form des Protestes gegen die Politik der israelischen Regierung. In Deutschland liesse sich viel “Antisemitismus” auf einen Schlag zum Verschwinden bringen, würde diese besonders einseitige Bundestagsresolution umformuliert. Die einseitige Einstufung der BDS-Bewegung als antisemitisch, ist viel zu einfach. Von einem anspruchsvollen deutschen Feuilleton sollte man erwarten dürfen, dass es sich etwas komplexeren Argumentationen öffnet. Als BDS-Gegner will ich die notwendige Debatte mit BDS-Befürworter*innen über (un)passende, (in)akzeptable, (il)legitime und (un)wirksame Proteststrategien gegen die israelische Besatzungspolitik nicht mit Verweis auf eine Bundestagsresolution moralisch allzu einfach gewinnen können. Nein – wir müssen reden dürfen, so wie es auch von der Berliner Protestdemonstration We Still Still Still Still Need to Talk vom 10. November 2023, organisiert von Candice Breitz und anderen jüdischen Künstler*innen gefordert wurde. Eine Forderung, hinter die ich mich mit meiner Teilnahme gestellt habe, zusammen mit palästinensischen und anderen arabischen Kulturschaffenden. Proteste gegen die israelische Regierung sind nämlich nicht an sich antisemitisch, sonst gäbe es Millionen von antisemitischen Jüdinnen und Juden, da sie weltweit bei solchen Protesten mitmachen. Es steht Deutschland nicht zu, Jüdinnen und Juden zu belehren, ihre BDS-Unterstützung sei an sich antisemitisch. Das ist so selbstverständlich, dass ich mich als 2021 eingebürgerter deutscher Staatsbürger wundere, im heutigen Deutschland so etwas schreiben zu müssen –hatte ich mich doch in einer freiheitlichen Demokratie eingebürgern lassen, zu deren Grundpfeilern auch die Meinungsfreiheit gehört. Oder anders formuliert: Ich finde es besonders richtig, dass der Geschwister-Scholl-Preis 2023 einem Autoren verliehen wurde, der mit Revolusi ein bedeutendes Werk über die indonesische Revolution geschrieben hat und gleichzeitig ein Kritiker der israelischen Regierung und BDS-Befürworter ist.

Die BDS-Jäger*innen unter den deutschen Kulturjournalist*innen scheinen mit dieser Tatsache nicht vertraut gewesen zu sein – womit sie die Chance vertan haben, (wieder mal) einen Preisverleih zu verhindern. Das deutsche Feuilleton ist aufgefordert seine pathetischen Aktivitäten zur Enttarnung von Kulturschaffenden als BDS-Befürworter*innen und – ergo – als Antisemit*innen einzustellen. Es gilt, einzusehen, dass es zu dem Konflikt Israel/Palestina unterschiedliche Meinungen gibt und es viel zu einfach ist bestimmte Positionen – nämlich die Positionen der Anderen – pauschal als ‘antisemitisch’ abzuqualifizieren. Ein Theaterdirektor ist kein Antisemit wenn er nach dem schrecklichen Massaker vom 7. Oktober 2023 keine israelische Fahne an der Fassade seines Theaters hissen liess.8 Die Greueltaten der Hamas lassen sich auch auf andere Weise verurteilen. Wenn die deutsche Feuilletonist*innen jedoch einfach so weiter machen wie bisher, wird es bald keinen Kulturbetrieb mehr geben, denn Kultur lebt von der Artikulation von – und der Auseinandersetzung mit – Differenzen.

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Weitere Links

Fußnoten

  • Siehe: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2023/11/vereinsverbot-hamas-samidoun.html

  • Siehe: Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen 5 V 1013/24

  • Siehe: Edward Said, ‘The One-State Solution’, in: The New York Times, January 10, 1999, Section 6, p. 36.

  • Er lautet: “Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.”

  • Siehe: https://nothingchangeduntilfaced.com/de/

  • ‘Oproep tot boycot tegen Israel’, De Morgen, 14. Januar 2009. Siehe:  https://www.demorgen.be/nieuws/oproep-tot-boycot-tegen-israel~bfe2fda5/

  • Diesen Eindruck entsteht beim Lesen eines Zeitungsartikels, für den die Journalistin bei den grossen deutschen Theatern angerufen hat mit der Frage wie es um die ‘Sympathiebekundung’ steht. Gemeint is nur die mögliche Sympathiebekundung mit Israel. Die Zeitung fasst die Lage so zusammen: “Der moralische Kompass in deutschen Schauspielhäusern scheint gestört: Viele Theater flüchten sich in Allerweltssätze oder stellen seltsame Rückfragen. Ein Streifzug durch die nervöse deutsche Theaterlandschaft.” Siehe: Sophie Klieeisen, ‘Welche Flagge soll es denn sein?‘, FAZ, 3. November 2023.